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Vollwert in der Bachinflation

■ Ansgar Müller-Nanninga dirigierte gutes „Weihnachtsoratorium“

Es wäre ungerecht, einen durchaus vorhandenen Unmut über die inflationäre Menge der Aufführungen des Bachschen „Weihnachtsoratoriums“ – die Kantaten 1 bis 3 – in der Kritik über die jeweilige Aufführung abzulassen. Denn einmal ist fast jedes Weihnachtsoratorium ausverkauft: warum also nicht, wenn der Bedarf da ist. Und in diesem Falle zum zweiten: die Aufführung in der Kirche Unser Lieben Frauen unter der Leitung von Ansgar Müller-Nanninga ist die einzige mit der historischen Besetzung des Knabenchores. Müller-Nanninga verstand es, die herbe Klangsinnlichkeit der Knabensoprane ganz ohne Sentiment künstlerisch zu verwerten, die Jungen zu einer authentisch wirkenden Interpretationsleistung zu führen, die in keinem Moment den Eindruck machte, das Ergebnis erbarmunglosen Drills zu sein. Im Gegenteil, locker artikuliert klangen die Koloraturen, über große Bögen gestaltet die schwierigen Höhen und fein ausgehorcht die homophonen Choräle. Deren fließendes Tempo überzeugte ebenso wie die Transparenz des Orchesters – Barockorchester Hannover „Concerto Farinelli“ – , dessen ausgeklügelte Bläserfarben, der generell rhythmische Drive.

Schön war an der Aufführung, daß Ansgar Müller-Nanninga vordergründiges Prachtgehabe vollkommen vermied, auf einfaches, sauberes, atmosphärisch dichtes Musizieren setzte. Das bekommt dem Werk, in dem fast alle Stücke sogenannte Parodien sind – die Musik stammt aus verschiedenen weltlichen Kantaten, und nur ihr Text wurde neu hinzugedichtet – , mehr als gut. Falsches Pathos konnte so nicht aufkommen.

Die Jungen konnten ihr Stück auswendig: ein eher seltenes Bild bei Chören. Im Gegensatz dazu würdigte die gute Altistin Gabriele Wunderer den Dirigenten keines Blickes. Hervorragend der weiche, in die Höhe drängende Baß Peter Franks, tapfer mit klangfarblichen Einbußen der Evangelist Julian Metzgers und leicht absackend in der Intonation Regine Horns Sopran. Viel Beifall in der ausverkauften Kirche und sogar eine Zugabe: den Schlußchor der Kantate Nr. 6 des Weihnachtsoratoriums, was daran erinnerte, daß manchmal die Entscheidung für die Kantaten 4 bis 6 fallen sollte. usl

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