: Deutsches Schrumpfen
■ Forscher warnen vorm Aussterben: Ohne Zuwanderer noch 33 Millionen im Jahr 2100
Berlin (taz) – Wenn das Ding aussieht wie eine Pyramide, frohlockt der Soziologe. Sieht es wie ein gerupfter Tannenbaum aus, wie derzeit der Fall, legt sich des Wissenschaftlers Stirn in Falten. Muß er gar auf etwas schauen, das an einen langgestreckten Heißluftballon erinnert, schlägt er Alarm.
Die Rede ist von Baum-Diagrammen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und vom Bielefelder Demograph Herwig Birg. Eine Studie seines Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik zeichnet Heißluftballons und Tannenbäume, wo Pyramiden sein sollten. Das sagt Birg: Die Bevölkerungszahlen gehen im nächsten Jahrtausend dramatisch zurück – und die sozialen Probleme wachsen. Zur Zeit leben 82 Millionen Menschen in der Bundesrepublik. Bei der hypothetischen Annahme, die Zuwanderung käme zum Erliegen, und die Geburtenzahl bliebe konstant bei derzeit 1,4 Kindern pro Frau, würde die Bevölkerung, laut Birgs Prognosen, im Jahr 2020 auf 78 Millionen sinken, im Jahr 2100 sogar auf 33 Millionen zurückgehen. Selbst wenn weiter rund 150.000 Menschen pro Jahr zuwandern, würde die Bevölkerungszahl im Jahr 2100 auf 60 Millionen Menschen sinken.
„Das gab es noch nicht, daß ein hochkomplexes Land so einer Schrumpfung unterliegt“, argumentiert Birg. Es werde allerdings erst in 20 bis 30 Jahren problematisch. Nach Ansicht des Bielefelder Soziologen ist das Thema Zuwanderung „nicht aktuell“. Birgs Zahlen würden Innenminister Otto Schilys (SPD) Ansicht nicht widerlegen, eine Grenze des Zumutbaren sei erreicht.
Rainer Münz, Bevölkerungwissenschaftler der Berliner Humboldt-Uni, sieht das ähnlich. Die Kargheit trockener Zahlen ergänzt er um den Satz: „Durch eine heutige Einwanderung lassen sich die Probleme von übermorgen nicht lösen.“ Er meint, die Zuwanderer präsentierten sich nicht marktgerecht, würden dadurch die Arbeitlosenzahlen in die Höhe treiben, und nicht die Zuwanderung wäre das Problem, sondern „daß die Falschen zuwandern“. Mit „falsch“ umschreibt er die fehlende marktgerechte Qualifikation der Neuankömmlinge am Arbeitsmarkt.
Zuwanderung löst kein Problem von morgen
Auch eine Bevölkerungszahl von 40 Millionen wäre nach Münz zu managen. „Die Geschichte lehrt: die Deutschen haben immer geglaubt, sie haben zuwenig Menschen in zu kleinem Raum.“ Und im Jahr 1910 hätten in Deutschland auch nur 40 Millionen Menschen gelebt. Die Panikmache um ein schrumpfendes Volk gehe in diese Richtung, meint Münz. Für wirklich problematisch hält er die Überalterung der Gesellschaft: „Nicht die vielen alten Leute sind das Problem, sondern die Strukturierung des Beitragssystems.“
Birgs „Wenn-Dann-Aussagen über die Zukunft“ haben eine Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent. Vorausschauende Politik hält er für wenig wahrscheinlich: „Demographen geben genaue Voraussagen – wie man damit umgeht, ist etwas anderes.“ Markus Vöker
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