: Der Tod auf Schienen
■ Atomtransporte durch Hamburg: Noch gefährlicher als befürchtet / Grenzwerte zu niedrig / GAL fordert Transport-Stopp Von Heike Haarhoff
Unauffällig in Lastern, Schiffen, Flugzeugen und Zügen verstaut – und deshalb in den meisten Fällen unbemerkt – kommt rund zehnmal pro Monat das atomare Unfall-Risiko mitten durch die Hamburger Innenstadt daher: Strahlende Fracht aus den heimischen Atommeilern Brokdorf, Krümmel und Brunsbüttel. Aber auch radioaktiver Müll aus Madrid oder gar China auf Irrfahrt nach Schweden oder zur Wiederaufbereitung ins französische La Hague: Am beliebten Umschlagplatz Hamburg geht kaum ein Kelch von unbestrahlten Brennelementen, Uranhexafluorid oder sonstigen Gefahrstoffen vorbei.
132mal gab die Umweltbehörde im Jahre 1992 grünes Licht für Atomtransporte durch die City, 122mal in 1993, 118mal in 1994 und 28mal allein Mai und September 1995: Weil Proteste allein nicht helfen, will GAL-Energieexperte Holger Matthews in der nächsten Woche mit einem Antrag in der Bürgerschaft erreichen, daß Atomtransporte durch Hamburg „solange untersagt werden, bis geklärt ist, wie gefährlich Neutronenstrahlung tatsächlich ist und die Strahlenschutzverordnung dem wissenschaftlichen Stand entspricht.“
So ist Uranhexafluorid „eine giftige Brühe, die zu Tabletten zum Einsatz in Brennelementewerken verarbeitet wird. Obwohl das Material höchst explosiv ist, wurden alle fünf Transporte zwischen Mai und September über den Hafen abgewickelt, kritisiert GAL-Referent Dirk Seifert.
Die grüne Forderung auf Transport-Stopp stützt sich auf ein im September erschienenes Gutachten des Marburger Nuklearmediziners Horst Kuni. Er berechnete die Strahlenbelastung durch einen der sogenannten Castor-Behälter. Danach ist der laut Strahlenschutzverordnung gültige, „relative biologische Wirkungsfaktor 10“ von Neutronenstrahlung viel zu niedrig angesetzt. Konsequenz: Der zulässige Grenzwert (20 Mikrosievert radioaktiver Strahlung pro Stunde) wird schneller erreicht als bisher angenommen. Die Atomtransporte seien folglich unzulässig, weil sie gegen die Strahlenschutzverordnung verstießen.
Bereits 1990 hatte die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP), die wahrlich nicht als Atom-Gegnerin verdächtigt werden kann, verbesserte Faktoren beschlossen, um die Wirkung von Neutronenstrahlung zu messen: „Dem bisherigen Faktor zufolge erzeugt austretende Neutronenstrahlung zehnmal soviel biologischen Schaden wie vergleichbare Mengen radioaktiver Gammastrahlen“, erklärt Karsten Hinrichsen vom Anti-Atom-Büro: „Tatsächlich wird ihre Gefährdung aber unterschätzt.“ Die Strahlen dringen durch die Castor-Wand aus, weil sie nicht materialgebunden sind.
Obwohl also seit fünf Jahren, so das Kuni-Gutachten, „wissenschaftlicher Konsens besteht, daß die Qualitätsfaktoren der Strahlenschutzverordnung nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechen“, wurden die Verordnungen bisher nicht geändert.
Der Grund: „Angeblich fehlt dazu eine EG-Richtlinie“, moniert Seifert die Bonner Untätigkeit. Die Konsequenz: Der nächste Transport am 23. Oktober.
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