Christoph Biermann
: In Fußballand

■ Moments '98: "Manni, 5,5!" - Wie der große Ronaldo nicht versetzt wurde

Das größte Spiel des Jahres, darüber läßt sich nicht debattieren, weil es das schon per Definition sein mußte, war das WM- Endspiel zwischen Brasilien und Frankreich im Stade de France. Es verschlug mich an jenem 12. Juli 1998 in Paris ein gütiges Schicksal, ohne vorher zu ahnen, welchen besonderen Höhepunkt ich dort erleben würde, in die Sitznachbarschaft der Kollegen einer großen Fachzeitschrift für das Fußballwesen. Dichtgedrängt saßen sie zu viert auf gerade einmal zwei Plätzen, da sie offensichtlich von einer ungnädigen Akkreditierungsmaschinerie über die Pressetribüne verteilt worden waren. Also rückten sie zusammen, weil sie beisammen bleiben mußten, wie mir im Laufe der historischen neunzig Minuten klar wurde.

An das Spiel selber muß sicherlich nicht erinnert werden, in dem ein eigentlich stürmerloses Frankreich die beste Mannschaft des Turniers mit 3:0 überrollte. Noch immer sind nicht alle Geheimnisse offenbar, die sich hinter dem rätselhaften Zusammenbruch des großen Ronaldo verbergen, des besten Spielers der Welt, hinter seiner Untersuchung im Krankenhaus, verspäteten Fahrt ins Stadion und seinem oder einem fremden Entschluß doch zu spielen. Ein großes, trauriges Endspiel war das, mit dem Sturz eines Titanen.

Während also dieses Drama seinen Lauf nahm, arbeiteten die Fachkollegen in der Reihe vor mir unter Hochdruck. Sie hatten nicht das Glück eines Andrucktermins, der es ihnen ermöglichte, genüßlich reflektierend zuzuschauen, um erst am nächsten Morgen eine wohldurchdachte Exegese des Geschehenen abliefern zu müssen. Hier hatte es hurtig zu gehen.

Bald aber hatten die vier trotz aller Widernisse der mobilen Telekommunikation den ersten Teil ihrer Arbeit geleistet und nahmen sich nun den Part vor, dem sie begeistert ihre ganze Kennerschaft schenkten. Ihr Anführer, ein großgewachsener, schlanker Mann mit eisgrauem Haar, dem breiteren Publikum als faszinierender Alleswisser beim sonntäglichen Fernsehfußballschwatz bekannt, eröffnete die Runde. Er nannte Namen und Zahlen, und die anderen taten es ihm nach.

Noch war weit über eine halbe Stunde zu spielen, doch vor mir summte bereits ein Bienenkorb von Zahlen und Namen, Namen und Zahlen. Jeder Spieler sollte seine Note bekommen, und gerecht sollte sie sein. Deshalb hatte sich die Fachzeitschrift sogar die Möglichkeit geschaffen, zwischen einer 2 und einer 2,5 fein zu unterscheiden.

Im größten Spiel des Jahres mußte dieser Benotung selbstverständlich besondere Aufmerksamkeit zukommen, das war klar. Eine zu leicht vergebene 1,5 für Desailly, wo es am Ende vielleicht doch besser eine 2 hätte sein müssen, würde die Leserschaft kaum verzeihen. Also wurden die Spielerzeugnisse ständig nachjustiert, jeder überzeugende Sprint und jeder verstolperte Ball konnte für die besten Spieler der Welt Notensprünge oder -stürze bedeuten.

Irgendwann war endlich Sicherheit in der Notengebung erreicht, es waren auch nur noch wenige Minuten zu spielen. Da drehte sich der Eisgraue, der Anführer, der seine Untergebenen mit Härte zu leiten versteht, und sagte zu dem Kollegen, der Kontakt zur Redaktion hielt: „Manni, Ronaldo doch nur 5,5!“

Ein Schlußakkord und ein grausames Verdikt: Ronaldo nur 5,5. Die zweitschlechteste Note, die möglich ist, die in einer ganzen Bundesligasaison kein Dutzendmal vergeben wird, ein Debakel, das Ende. Mir stockte der Atem, und ich verstehe nicht, warum nicht augenblicklich das Spiel, ja die ganze Welt anhielt und sich alle Augen jenem Platz zuwandten, an dem dieses Urteil ausgesprochen wurde.

In diesem Moment des Jahres gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf, aber vor allem der: Ronaldo hatte die Versetzung nicht geschafft, er würde in die Fußballgrundschule zurückkehren müssen, bis er irgendwann erneut würde vorspielen dürfen. Aber es würde schwer für ihn werden, ja, wenn ich es mir recht überlege, hat er es eigentlich bis heute nicht geschafft.