: Reinickendorfer Flüchtlinge müssen mit Karte zahlen
■ Als erster Bezirk führt Reinickendorf die Plastikkarte für Asylbewerber ein. Sozialhilfe wird nicht mehr bar ausgezahlt. Steglitz, Neukölln und Spandau wollen im kommenden Jahr folgen
Flüchtlinge und AsylbewerberInnen, die im Bezirk Reinickendorf registriert sind, dürfen seit vergangener Woche nur noch mit Chipkarten in bestimmten Supermärkten ihren Bedarf an Lebensmitteln einkaufen. Vorher wurde ihnen die Sozialhilfe bar ausgezahlt, oder sie bekamen Wertgutscheine, die sie in verschiedenen Läden einlösen konnten. Reinickendorf ist damit der erste Bezirk, der die Chipkarte eingeführt hat – Steglitz, Spandau und Neukölln wollen im nächsten Jahr folgen.
Bereits seit August dieses Jahres müssen auch die 2.100 AsylbewerberInnen, die vom Landessozialamt betreut werden und in Übergangswohnheimen leben, mit Chipkarte einkaufen. Berlin ist das erste Bundesland, das Sozialhilfe über elektronische Karten speichern und verteilen läßt.
Mit der Karte kann derzeit in 63 Geschäften berlinweit eingekauft werden. Darunter sind auch drei Apotheken, viele arabische Einzelhändler und fünf Supermarktketten wie Rewe oder Edeka, jedoch keine Billigdiscounter. „Mit diesem Sachleistungssystem wollen wir den Anreiz für sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge mindern“, sagte gestern Frank Balzer, CDU- Sozialstadtrat in Reinickendorf. Wird der Betrag, der auf der Karte gespeichert wird, nicht restlos aufgebraucht, verfällt der Wert am Ende des Monats.
Das Sachleistungssystem, das vom Asylbewerberleistungsgesetz geregelt wird, läßt sich der Bezirk einiges kosten: Die Münchner Firma Infracard, die die Karte entwickelt hat und die technische Ausstattung stellt, bekommt derzeit 1,56 Prozent des Warenumsatzes. Das sind 5.200 Mark monatlich. Dies seien jedoch „vergleichsweise geringe Kosten“, sagte Balzer, da das Bezirksamt zukünftig weniger Verwaltungsaufwand habe.
Marc Lützen, Geschäftsführer von Infracard, sagte gestern, ein Mißbrauch der Karte sei so gut wie ausgeschlossen. Im Sommer hatte die taz berichtet, daß einige beteiligte Einzelhändler einen Großteil des auf der Chipkarte gespeicherten Geldes abgebucht und Flüchtlinge bar ausgezahlt hatten. Mit dem Bargeld konnten sie dann in Geschäften ihrer Wahl einkaufen. Einem Händler wurde daraufhin der Chipkarten-Vertrag gekündigt. Es habe sich damals jedoch lediglich um eine „Einzelfall“ gehandelt, sagte Lützen.
Georg Classen vom Flüchtlingsrat sagte gestern, daß das Chipkartensystem gegenüber anderen Sachleistungsvarianten für die Betroffenen mit „vergleichsweise wenig Einschränkungen und Bevormundung“ verbunden sei. Wesentlich schlimmer sei die Vollverpflegung oder die Ausgabe von Freßpaketen, wobei Flüchtlinge gar keine Möglichkeit mehr haben, selbständig einzukaufen. Der größte Vollverpflegungsbetreiber ist das Deutsche Rote Kreuz in der Spandauer Streitstraße, in dem vierhundert Flüchtlinge leben. Julia Naumann
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