In der Erde pocht ein Rentierherz

Rentiere gehören zu den ältesten Haustieren der Welt. Schon während der Eiszeit ließen die Menschen die kleine Hirschart für sich arbeiten. Die finnischen Samenvölker glauben, daß die Welt aus einer Rentierkuh erbaut wurde. Und ein rotweißgekleideter Herr kam eines Tages auf die Idee, sich von ihnen einmal im Jahr auf einem Schlitten zur Arbeit fahren zu lassen. Oder war das nur ein Fliegenpilz? Ein Tierreport  ■ von Heide Platen

Elche, in ihrer ursprünglichen Waldheimat gut getarnt und von nur wenigen Feinden bedroht, sind auch nicht so leicht zu erschrecken. Sie stören sich weder an Menschenmengen noch an Auto- und Eisenbahnlärm. Zu zügeln und zu lenken sind sie nicht. Sie folgen nur dann brav, beobachtete der inzwischen verstorbene Zoologe Bernhard Grzimek, wenn der Besitzer vorangeht, sonst fangen sie an, „etwa alle zwanzig Minuten an Büschen zu weiden, und legen sich spätestens nach einer halben Stunde mitten auf dem Weg nieder, wo sie sich dann dreiviertel Stunden lang von der Anstrengung erholen“.

Lasten verweigern sie gleich ganz. Ein finnischer Biologe führte seine Elche Pussi und Magnus auf Marktplätzen vor. Für Panik sorgten die achthundert Kilogramm schweren Tiere, als sie der Stimme ihres Herrn aus dem Transportwagen heraus folgten – mit einem Satz durch die Wagenplane und zweieinhalb Meter in die Tiefe.

Bessere Erfolge, so Grzimek, erreichten Forscher in der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie knüpften an vorgeschichtliche Felszeichnungen an, die Elche hütende Menschen zeigen. In der Versuchsstation Serpuchowsk wurden dreizehn zahme Elche zum Holztransport eingesetzt. Die Versuche wurden nach 1946 wiederaufgenommen und waren nach langer Dressur bedingt erfolgreich.

Dennoch wären die Elche als Reisetiere für den Weihnachtsmann ein Reinfall. Ihm bleiben nur die Rentiere, eine Unterfamilie (“Rangiferinae“) der Hirschartigen. Sie sind Rehen und Elchen verwandt. Grzimek nennt sie Rener. Sie gehören zu den ältesten Haustieren der Welt mit nur einer Art (“Rangifer tarandus“) und zwanzig Unterarten. Sie sind die einzigen Hirschartigen, bei denen männliche wie weibliche Tiere ein Geweih tragen.

Rentiere unterscheiden sich von ihren Verwandten durch Haare auf der Nase und den Aufbau der Füße, die spreizbar sind und auch in Morast und Schnee tragen. Die Nebenklauen reichen bis zum Erdboden und geben zusätzlichen Halt. Beim Lauf der Rentiere entsteht ein seltsames Knackgeräusch. Erst in diesem Jahrhundert stellte die Zoologin Erna Mohr fest, daß es nicht die Klauen sind, die da aneinanderschlagen, sondern daß das Geräusch durch die Bewegung der Sehnen entsteht.

Ein hirschartiges Nutztier ist nur das Nordeuropäische Ren (“Rangifer tarandus tarandus“) geworden. Ihm schritten die Menschen bei den Domestikationsversuchen nicht voran, sondern sie folgten den wandernden Herden zuerst als Jäger, dann als nomadische Hirten. Rene grasten zur Steinzeit bis an den Rand des Mittelmeeres. Sie waren die Hauptbeute der Späteiszeitmenschen.

In einer Höhle der französischen Dordogne ritzten die vorgeschichtlichen Jäger 121 Zeichnungen ihrer Nahrungsgrundlage in die Felsen. Mit dem Rückgang des Eises verschwanden auch die europäischen Rene. Die heutige Population stammt von Einwanderern aus dem Osten ab. In den Tundren des nördlichen Asien und Europa sind sie immer noch unverzichtbare Lebensgrundlage vieler Menschen. Sie liefern Milch, Butter und Käse, Werkzeug, Felle, Leder und Fleisch.

Rentierhaare sind hohle Röhren, die eine Isolierschicht bilden, aber sie sind so spröde, daß sie leicht brechen und deshalb unangenehm haaren. Das Ren, das in der eisigen Kälte der Polarnächte überleben kann, ist in kulinarischer Hinsicht wählerisch. Es verzehrt eine Vielzahl von Pflanzen, Blüten, Pilzen, frißt Seetang, Lemminge, Mäuse und Vogeleier. Es kann seine vorwiegend pflanzliche Nahrung, mit den Vorderfüßen freigescharrt, auch tiefgekühlt konsumieren.

Warum Rene wandern, ist bis heute ungeklärt. Forscher vermuten als Ursache des Zuges sowohl den schonenden Umgang mit der knappen Nahrung als auch die Flucht vor den großen Mücken- und Rachenbremsenschwärmen der morastigen Kältesteppen. Rentierzüchter haben das störrische und aggressive Wesen, das vor allem die schon erwachsenen Männchen der Hirschartigen auszeichnet, durch Zuchtwahl besänftigt. Sie kastrieren alle männlichen Tiere spätestens im Alter von drei Jahren. Die Zucht brachte, wie bei allen Haustierarten, verschiedenste Formen hervor, neben den wildfarbenen auch schwarze, gescheckte und weiße Tiere, kompakte zur Fleischgewinnung und hochbeinige für die Schlitten.

Weiße Rene, die Märchentiere mit silbernem Geweih und goldenen Klauen, sind bei den Züchtern eher unbeliebt. Die Albinos neigen zu Deformationen und werden meist gleich geschlachtet und zu Festtagskleidung verarbeitet. In Finnland waren die Rentierherden bis in dieses Jahrhundert der Reichtum der halbnomadischen Samen. Moderne Viehzucht und der Preisverfall nach Tschernobyl reduzierten die Kultur der Samen fast zur Folklore. Aber noch immer ist die Welt in ihrer Schöpfungsgeschichte aus einer Rentierkuh erbaut, deren Augen als Morgen- und Abendstern vom Himmel scheinen und deren Herz im Erdinneren pocht.

Die Schriftstellerin Christa Dodwell reiste nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion über die Kamtschatkahalbinsel und beobachtete den zögerlichen Wiederaufbau der privaten Rentierherden. Dort zähmte der Vulkangott Hirsche, ehe er versteinerte. Das Menschenwerk beschränkt sich auch hier auf die Rene: „Nachdem wir einen Wacholderstumpf gerammt hatten und mit dem Geschirr an einem Ast hängengeblieben waren“, ging die Fahrt aufs Glatteis, und „plötzlich alles schief“: „Ich bremste mit beiden Füßen, aber da drehten sie erst recht durch. Ihre Hufe schoßen in alle Richtungen.“

Das ist bei den Tschuktschen schier unerschöpflicher Gesprächsstoff: „Einer erzählt, wie sich seine Rene mit den Beinen in den Zügeln verfingen“, ein anderer, wie sein Ren bei einem Befreiungsversuch auf ihm herumtrampelte.

Rene traben nicht wie Pferde diagonal, sondern setzen ihre Läufe einseitig auf: „Manchmal scheinen sich alle vier Beine auf einmal in der Luft zu befinden.“ Das ist keine himmlische Reise, sondern vermittelt „das Gefühl, in einem Rennboot zu sitzen, das über harte Wellen donnert.“ Traumreisen sind gewiß besser abgefedert.

Traumreisen machen auf Kamtschatka nicht nur die Rentiere, sondern auch ihre Hirten. Zur Pilzzeit bedröhnen sich einige durch den Genuß des Fliegenpilzes. Dodwells Gastgeber „wartete mit der Idee auf, daß die Figur des Weihnachtsmannes, der ja mit einem Rentierschlitten durch die Lüfte fährt und die weiße und rote Farbe des Fliegenpilzes trägt, auf eine Halluzination zurückgehen könnte“.

Auch für Projektionen sind Rene geeignet. Während andere Hirscharten nach der Kastration oder bei Hormonstörungen keine oder deformierte Geweihe tragen, wachsen sie den Renen geschlechterübergreifend und hormonunabhängig. Japanische und chinesische Händler kaufen die Gehörne tonnenweise auf. Sie werden gemahlen und getrocknet. Das so gewonnene Pulver wird Pantokrin genannt und in Asien als Heilmittel verwendet.

Zur Pantokringewinnung werden Hirsche vor allem in Staatsfarmen gehalten. Die Akademie der Wissenschaft in Moskau hat herausgefunden, daß Hirschgeweihe, im Gegensatz zu Nashörnern, tasächlich Geschlechtshormone und Aufbaustoffe enthalten, die gegen Alterserscheinungen und bei der Wundheilung helfen.

Eine der Leibspeisen der Tschuktschen ist das Pantui, der durchblutete Bast junger Rengeweihe. Das Rezept ist einfach: „Der Pantui muß über dem Feuer fünf Minuten lang abgesengt werden, bis man ihn abkratzen und essen kann. Er schmeckt recht süß, nicht wie Fleisch, und hat eine dicke, hautähnliche Schicht aus weißem Knorpel. Dann saugt man an den Geweihknochen, um das süße Blut zu genießen.“ Pantui, so Dodwells Gastgeber, sei streßlindernd und fördere die Genesung, zuviel davon aber wirke als Schlafmittel.

Das samisches Nationalgericht „Porokaristys“ ist weniger gewöhnungsbedürftig: Rengeschnetzeltes mit Preiselbeeren und Kartoffelbrei. Und während unser kleiner Dicker im roten Kittel umgeht, fährt der samische Teufel Stallo noch immer durch die Rauchlöcher der Jurten und Häuser. In der Julnacht kommt er mit dem Mäuseschlitten.

Literatur: Christa Dodwell, Jenseits von Sibirien, Frederking & Thaler, München 1994

Heide Platen, 52, Baden-Württemberg-Korrespondentin und Kleintierberichterstatterin der taz. Ihr Rattenbuch ist 1997 beim Campus-Verlag erschienen.