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Die Maske

Mein Liebster hatte eine Weihnachtsphobie. Den zärtlich gebastelten Adventskalender, den ich über sein Bett hängte, duldete er gerade noch. Wann immer jedoch die Rede auf Heiligabend kam, zuckte er zusammen; selbstgebackenen Christstollen brachte er nur mit viel Kaffee herunter. „Unheilbares Kindheits-Trauma“, sagte er und erzählte die Geschichte von seiner Mutter, die am Heiligen Abend zu viel getrunken hatte, im Streit einen frisch geschenkten Küchenquirl nach seiner Schwester warf und deren Freundin zwischen die Augen traf. Ich, damals 16, nickte mitfühlend und versuchte nicht weiter, ihn zu überreden, Weihnachten mit meiner Familie zu verbringen.

Statt dessen trafen wir uns an der Bushaltestelle. Nachts um zwölf, als alles vorbei war, stand ich da, wie abgemacht. Mir war kalt. Es graupelte; vielleicht war es auch Hagel. Ich wartete eine halbe Stunde. Mein Liebster hatte auch eine Pünktlichkeitsphobie. Als er endlich kam, hielt ich ihm mit klammen Fingern das Geschenk meiner Eltern hin – ich selbst hatte nicht gewagt, ihm eines zu machen. Selten habe ich ihn so frostig schweigen sehen wie in dem Moment, als er die Weihnachtsmann-Maske auspackte – als er den Wattebart zwischen den Fingern zwirbelte und den Graupelkörnern zusah, die auf die rotglänzende Nase fielen. „Ein Weihnachtsmann“, sagte ich hilfsbereit. „Ich seh's.“ Und dann wurde es richtig schlimm. „Hohoho“, sagte mein Liebster zu jedem, der uns auf dem Weg zur Kneipe und von dort nach Hause begegnete; zwischendurch verfiel er in hysterisches Lachen.

Der Abend wirkt bis heute nach. Seine Weihnachtsphobie hat er überwunden – unsere Beziehung auch. Dieses Jahr verbringt er Heiligabend mit meinen Eltern. Ich fahre lieber in den Urlaub.

Judith Weber

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