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Ein Alltag voller Beschimpfungen

Donnerstags ist Sprechstunde im Neuköllner Sozialamt, dem größten der Republik. Die MitarbeiterInnen sind überfordert  ■ Von Sabine am Orde

Die roten Flecken in ihrem Gesicht vermehren sich. „Bitte warten Sie draußen, ich spreche mit meiner Gruppenleiterin“, sagt Regina Paul* betont ruhig. Doch die kleine, zierliche Frau mit der roten Lockenmähne auf der anderen Seite des Tresens denkt nicht ans Gehen. „Frau Paul“, keift sie, „warum müssen Sie mich zu Ihrem Spielzeug machen, haben Sie zu Hause nichts zu spielen?“ Die Flecken wachsen, Regina Paul atmtet tief durch. „Ich spiele nicht mit Ihnen“, sagt sie, „aber ich kann Ihnen das Geld heute einfach nicht geben. Und jetzt verlassen Sie bitte den Raum.“ Die aufgebrachte Frau poltert noch etwas von „Hintern plattsitzen“ und „zur Kriminellen machen“, aber dann räumt sie das Feld. Regina Paul sinkt auf ihren Schreibtischstuhl, schlägt die Hände vor das Gesicht. „Ich halte das nicht mehr aus“, stöhnt die Sozialamt-Sachbearbeiterin.

Es ist Donnerstag morgen, kurz nach elf. Im Neuköllner Rathaus in der Karl-Marx-Straße herrscht Hochbetrieb. Wer sich nicht auskennt in dem riesigen Gebäude, das zwei Innenhöfe umschließt und in den fünfziger Jahren um einen Anbau erweitert wurde, irrt über die verrauchten Gänge auf der Suche nach dem richtigen Raum. Pauls Büro liegt im dritten Stock des Neubaus, am Ende eines langen, schlechtbeleuchteten Flurs. Stühle gibt es hier nicht. Leute, die zum Teil bereits seit kurz vor acht auf ein Gespräch mit ihren SachbearbeiterInnen warten, lehnen gelangweilt an der Wand, stehen, hocken, einige sitzen auf dem Fußboden. Ein wildes Sprachengemisch tobt durch den Gang, dazu Kindergeschrei, verqualmte Luft und hier und dort eine Alkoholfahne. „Mann, das nervt“, motzt ein Mitvierziger in Lederjacke und abgelaufenen Cowboystiefeln ins Nichts und fuchtelt mit seiner Zeitung durch die Luft. Das Portemonnaie hat er mit einer Kette am Gürtel befestigt. Es ist Sprechstunde im größten Sozialamt der Republik.

Peter Beyer ist jung, für junge Beamte gibt es keine andere Stellen. Seit einem Jahr arbeitet Beyer im „Soz“, und wie viele seiner KollegInnen will er hier möglichst schnell weg. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich hellgraue Akten, auch der Fußboden neben seinem Stuhl ist belegt. „Wir sind vollständig überarbeitet“, sagt er. Jeder Sachbearbeiter muß permanent 190 Akten bearbeiten, in manchen steckt das Schicksal von Einzelpersonen, in anderen das ganzer Familien: „Dabei wissen alle, daß nur 140 zu schaffen sind.“ „Manchmal“, sagt Beyer, „wache ich nachts auf und überlege, was ich vergessen habe. Ich will nicht, daß gewissenhafte Leute eine Mahnung kriegen, nur weil die Akte hier monatelang liegt.“

Doch für gewissenhaft hält Beyer längst nicht viele seiner KlientInnen. Wenn er erzählt, spielen Mißbrauch und Schwarzarbeit, Schlamperei und Unzuverlässigkeit eine große Rolle. Auf dem Gang wartet ein junger Typ in Daunenjacke und Basecap darauf, daß seine Wartenummer zum zweiten Mal aus der Sprechanlage dröhnt. Er hat eine Maßnahme beim Arbeitsamt abgebrochen. „Die hat ihm nicht zugesagt“, poltert Beyer in seinem Büro. „Mir sagt hier auch manches nicht zu, und ich komme trotzdem jeden Tag.“ Jetzt will Beyer „eine GZA“ verhängen, wie die gemeinützige, zusätzliche Arbeit für drei Mark pro Stunde im Amtsjargon heißt. Tritt der Sozialhilfeempfänger dazu nicht an, kann die Stütze gekürzt oder gar ganz gestrichen werden. Rund 1.800 solcher Jobs vergibt das Sozialamt monatlich.

Auf dem Gang ist die Stimmung schlecht. Eine Mittdreißigerin beklagt sich laut, bei ihr sei gerade Diabetis diagnostiziert worden und ihr Sachbearbeiter habe sie per Brief zum Amtsarzt geschickt. „Ich hätte ins Koma fallen können“, klagt sie, „und die tun so, als würde ich simulieren.“ „Hier muß man sich durchsetzen“, mischt sich ein Mann ein, der sich mit gelben Fingern eine Zigarette nach der anderen ansteckt. „Wird Zeit, daß die endlich ihre Schrottcomputer wegschmeißen“, motzt er.

Daß die ein Problem sind, finden auch die SachbearbeiterInnen. „Am Monatsende, wenn es viele Zahlungen gibt, bricht das System regelmäßig zusammen“, sagt Michael Baumen. „Dann sind wir den ganzen Tag lahmgelegt.“ Heute tut sich seit einer Stunde nichts. Im Sommer soll ein neues Programm eingeführt werden.

Ein paar Türen weiter debattiert Regina Paul mit einer Russin. „Meine Mutter braucht einen Krankenschein“, sagt diese in kaum verständlichem Deutsch. Dreimal erklärt Paul ihr, daß sie dafür nicht zuständig sei. Die Russin versteht sie nicht, irgendwann gibt sie auf. „Wir haben hier ein ganz großes Sprachproblem“, sagt Peter Beyer, viele der Sozialhilfeempfänger können kein Deutsch. „Ich gehe manchmal einfach auf den Flur und frage, ob jemand die entsprechende Sprache spricht.“

Die lange Wartezeiten, die schlecht ausgestatteten Räumlichlichkeiten und die Verständigungsprobleme seien die Ursache für die aggressive Stimmung im Amt, sagen die SachbearbeiterInnen im dritten Stock: „Beschimpfungen gehören zum Alltagsgeschäft.“ Alle betonen, daß es in ihrer Gruppe noch nicht zu körperlichen Angriffen gekommen sei. Doch alle erzählen auch, daß jüngst eine schwangere Kollegin mit einem schweren Gegenstand beworfen, eine andere geohrfeigt wurde. Auch das eine oder andere Möbelstück soll gewankt haben.

Ein Fünftel der Klientel sei schwierig, schätzt Sozialstadträtin Stefanie Vogelsang, die zwei Stockwerke unter Pauls Abteilung residiert und für ihre regide Sozialamtspolitik bekannt ist. Für die CDU-Politikerin liegt das Problem in der „Grundeinstellung“ der SozialhilfeempfängerInnen: „Die Leute meinen, heute auf alles ein Recht zu haben.“ Und dann spricht sie vom jungen Alter, fremden Sprachen, der anderen Mentalität der SozialhilfebezieherInnen. Um deren Aggressionen in Schach zu halten, hat Vogelsang im vergangenen Jahre einen Wachschutz auf den Gängen patrouillieren lassen. „Zu teuer“, befand sie und setzte vier StützeempfängerInnen ein.

Heute geht Bernd Weinkauf Streife auf dem Sozialamtsflur; erst hat er es für drei Mark die Stunde gemacht, jetzt hat er einen Einjahresvertrag. In dunkelblauem Anzug, mit dem Bezirkswappen auf der Krawatte und einem Pieper ausgestattet, will er „ausgleichen“, wie er es nennt: „Wir versuchen, beiden Seiten klarzumachen, daß sie es nicht mit Idioten zu tun haben.“ Wenn es zu brenzlig wird, holt der 43jährige die Polizei. Dann gibt es Hausverbote und manchmal auch eine Strafanzeige. Manchmal läßt er auch Obdachlose, die sich im Sozialamt aufwärmen, von der Polizei abholen. Aus- oder fortgebildet wurden Weinkauf und seine KollegInnen für ihre Arbeit nicht.

Die SachbearbeiterInnen dagegen sollen bald alle in Konfliktbewältigung geschult werden. Eine Gruppe hat Stadträtin Vogelsang bereits im Frühjahr zu einem fünftägigen Deeskalatations-Training verdonnert – mit positiver Resonanz: „Wir haben viel darüber nachgedacht, wie man in diese Feindstellung gerät“, sagt Michael Baumen, der freiwillig nicht an der Fortbildung teilgenommen hätte. Schließlich sei die Arbeit einer ganzen Woche liegengeblieben – und das heißt zusätzlicher Streß.

„Die Mitarbeiter fühlen sich überfordert von dem vehementen, schwierigen Verhalten ihrer Klientel“, sagt der Psychologe Dirk Kriegeskorte, der die Trainingskurse durchführt. „Sie fühlen sich als Frontschweine, die den Staat repräsentieren, aber auf seine Vorgaben keinen Einfluß haben.“ Mehr Personal allein werde das Problem nicht lösen: „Die Arbeit muß qualitativ verändert und neu strukturiert werden“, sagt Kriegeskorte und spricht von Teamarbeit, abgeflachten Hierarchien und Supervision. „Wenn die Stadträtin das wirklich durchsetzt, ist das ein mutiger Schritt.“

Das loben selbst die Neuköllner Bündnisgrünen, die ansonsten nicht viel Gutes über Vogelsangs Politik zu sagen haben. „Das Sozialamt ist seit langem ein Problemkind“, sagt Hans Schulze, grüner Fraktionsvorsitzender in der Bezirksverordnetenversammlung. Er weiß von Vorwürfen über Schikanen durch AmtsmitarbeiterInnen und zähe Antragsbearbeitungen. „Unmenschlich“ sei der Umgang mit Flüchtlingen. Besonders unter Beschuß steht die Abteilung IV mit Sitz im zweiten Stock, zuständig für Flüchtlinge, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Sozialhilfe beziehen. Flüchtlingsinitiativen demonstrierten jüngst vor dem Neuköllner Rathaus gegen „die alltägliche Schikane“ im Amt gegen Flüchtlinge und Obdachlose: Anträge würden verschlampt oder ignoriert, Leistungen wie Schuhe oder Shampoo nur widerstrebend bewilligt.

Inzwischen ist es halb eins, im dritten Stock ist es ruhig geworden. Nur zwei Frauen warten noch auf dem Gang. Regina Paul und Peter Beyer stehen lachend in Beyers Büro. Gerade war die Gruppenleiterin da und hat ihnen die frohe Botschaft überbracht. „Ich werde ins Personalamt versetzt“, frohlockt Beyer. Auch Paul bekommt dort einen neuen Arbeitsplatz. Die Haut um ihren lachenden Mund ist wieder weiß.

* Die Namen der SachbearbeiterInnen wurden geändert

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