: Manifest der Unruhe
Das Staunen des Betrachters dynamisch bebildert: Anke Feuchtenbergers „Somnambule“ ■ Von Jens Balzer
n einem großen Haus soll das Mädchen März das Hinein-, Hindurch- und Hinuntergehen üben: Es handelt sich um eine Initiation. Erst wird sie von einem düsteren Himmelbett bedrängt, wie ein Embryo verkriecht sie sich in seiner Höhle. Dann zieht der Schlund einer Wendeltreppe sie auf immer tiefere Hausgeschosse hinab. Erst vor der Tür zu einem finsteren Zimmer hält März schließlich inne. Die allegorische Schwärze, die ihr dahinter entgegen gähnt, scheint dem Mädchen keine Verheißung zu sein. Kurz sinniert sie über die Art der Verwandlung, die sie in dieser Dunkelkammer wohl zu erwarten hat – dann klettert sie die Treppe trotzig wieder hinauf.
Zweifelnde Frauen bei Selbstfindungsversuchen hat Anke Feuchtenberger schon häufig gezeigt, wobei ihr Versuch, deren innere Bewegtheit zum Bildmotiv zu erheben, stilprägend geworden ist. In ihren ersten Büchern, Mutterkuchen und Die Hure H., hat Feuchtenberger das Porträt von erratischen Körpern gepflegt, die den Betrachter bestricken und gleichzeitig abstoßen sollten. Sie changierten zwischen Mensch- und Tierphysiognomien, und sie verweigerten geschlechtliche Eindeutigkeit. Die existentielle Fremdheit der gezeigten Figuren sollte sich im Betrachter als physische Unruhe manifestieren. Ein üppiger Ornamentschmuck, der die einzelnen Szenen umrankte, übertrieb noch die Irritationen des Blicks.
In den sechs neuen Geschichten, die Feuchtenberger in Somnambule versammelt, sind die gezeichneten Körper zwar weiterhin seltsam geformt, doch die Ornamente sind völlig verschwunden. Die Gestik der Zeichnerin ist dabei auf ungewohnte Art kenntlich geblieben. Die meist seitenfüllenden Bilder wirken trotz grober Textur seltsam harmonisch. Die Geschlossenheit der Kompositionen steht im Gegensatz zu der steten Bewegung, die aus ihrer Montage herrührt.
In der „März“-Geschichte hat Feuchtenberger diesen Gegensatz am eindrucksvollsten inszeniert. Der Mischung aus Furcht und Trotz, mit der sich das Mädchen den Initiationsriten verweigert, entspricht ein zaudernder Wechsel der Blickwinkel, aus denen man ihre Wanderungen verfolgt. Sukzessive wird das Gesichtsfeld des Mädchens erkundet, ohne daß sich dieses mit der Perspektive des Betrachters je wirklich deckte. In den elegischen Stillstand der Geschichte ist so eine dauernde Unruhe geprägt, die das Staunen des Betrachters bebildert. Diese Art der stillen Dynamik hat man in Feuchtenbergers Geschichten bisher noch nicht gesehen.
Die seit kurzem in Hamburg lebende Zeichnerin bezeichnet sich gerne als Bilderzählerin, das Wort „Comic“ ist ihr suspekt. Die Verstörung des Blicks, die sie fortgesetzt zu provozieren versucht, läßt die alte Ästhetik der Bildergeschichten weit hinter sich. Obwohl sie die Schrift aus ihren Bildern fast völlig verbannt hat: Feuchtenbergers neue Geschichten wirken so comichaft wie selten zuvor.
Anke Feuchtenberger: „Somna-bule“, Jochen Enterprises, Berlin 1998, 120 Seiten, 29,90 Mark
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