: Weder Kampf noch Krampf
■ Rot-Grün will die doppelte Staatsangehörigkeit ermöglichen. Das hat viel mehr Vor- als Nachteile. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit
Wir kennen sie aus jeder Debatte über Reizthemen: ebenso populäre wie dämliche Argumente für Dinge, die sich auch besser begründen lassen. Die von Eberhard Seidel-Pielen zitierte Presseerklärung des bündnisgrünen Bundesvorstands aus dem Jahr 1996, wonach die doppelte Staatsbürgerschaft „der einzige Weg zu gesellschaftlicher Integration und rechtlicher Gleichstellung“ sei, fällt in diese Kategorie.
Doch aus einer Stellungnahme, die sich so in keinem grünen Programm findet, abzuleiten, dies sei typisch bündnisgrün, ist wenig überzeugend. Seidel-Pielen trifft allerdings einen wunden Punkt, wenn er die ethnizistische Perspektive eines Teils der Linken anprangert. Das betrifft die Romantik gegenüber „aufständischen Völkern“ ebenso wie jene Unaufgeklärtheit, die im „Fremden“ immer nur das unverfälschte Gute und Reine sieht.
Doch schwärmerischer Ethnizismus ist bei Bündnisgrünen erheblich seltener anzutreffen als bei „Altlinken“ oder – unter umgekehrten Vorzeichen – in deutschnationalen Kreisen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie vor wenigen Jahren über die doppelte Staatsbürgerschaft gestritten wurde. Manche „linken“ KritikerInnen der Bündnisgrünen waren dagegen, das volle Wahlrecht an den deutschen Paß zu binden. Denn, so die Begründung: „Dann müssen die ja Deutsche werden!“ Das sahen die Bündnisgrünen schon damals anders: Ein deutscher Paß ist kein Makel und auch keine Schande.
Das Wesentliche an der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ist für Seidel-Pielen die Einführung des Territorialprinzips – wer hier geboren wird, ist DeutscheR. Rechtsgeschichtlich ist dies sicher bedeutsam. Es bringt aber nichts, mögliche Fortschritte gegeneinander auszuspielen und die Mehrstaatlichkeit so zur Nebensache zu erklären.
Führen wir die Debatte doch mal ganz pragmatisch: Der doppelte Paß heißt in der Praxis schlicht und einfach, daß es dem deutschen Staat egal ist, ob weitere Staatsangehörigkeiten bestehen. Für die Beziehung einer hier lebenden Bürgerin zu diesem Staat ist allein der deutsche Paß maßgebend. Wenn sie dauerhaft in einen Staat übersiedelt, dessen Staatsangehörigkeit sie annimmt, hat sie dort alle Rechte und Pflichten – die deutsche Staatsangehörigkeit ruht. Das praktizieren die meisten Staaten der Europäischen Union seit Jahren, ohne dies zu bereuen. Deutschland akzeptiert die Mehrstaatlichkeit für einen Teil seiner BürgerInnen. Warum soll aber für AussiedlerInnen und GriechInnen grundsätzlich möglich sein, was anderen ebenso grundsätzlich verwehrt wird?
Man kann darüber lamentieren, das Festhalten an einer alten Staatsbürgerschaft sei kein Ausdruck von aufgeklärtem Weltbürgertum. Es ist jedoch nicht die Aufgabe des deutschen Staates, emotionale Hintergründe zu bewerten. Er kann aber darauf Rücksicht nehmen, wenn ihm dies nicht schadet oder sogar nützt. Das Geburtsrecht auf einen deutschen Paß, ein Kernstück der rot-grünen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, wird jährlich 100.000 neugeborene „AusländerInnen“ zu deutschen InländerInnen machen. Das ist einschneidend, doch für viele MigrantInnen ändert sich dadurch erst mal wenig.
Wenn sich zum Beispiel Hunderttausende von jungen Menschen türkischer Herkunft den deutschen Paß wünschen, dies aber mit Rücksicht auf ihre Eltern und Großeltern nicht anpacken – warum sollen wir ihnen da nicht die legale Brücke des Doppelpasses bauen (der Doppelpaß über die Konsulate ist illegal)? Wenn ein guter Bekannter von mir, der den Großteil seiner Tanten und Onkel im Holocaust verloren hat, seine vier Pässe pflegt, weil er niemals in die Lage kommen will, nicht zu wissen, wo er hingehen kann – warum soll er das nicht hochoffiziell dürfen? Wenn Nichtdeutsche, denen Mölln und Solingen noch im Magen liegen, eine theoretische Fluchtmöglichkeit behalten wollen, falls es zu Pogromen kommt – warum sollen wir ihnen die passive Beibehaltung des alten Passes nicht gestatten, auch wenn wir ihre Befürchtungen nicht teilen?
Natürlich könnten wir bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts auch auf die generelle Möglichkeit eines Doppelpasses verzichten – doch ohne diese Brücke werden viele den Schritt zur deutschen Staatsbürgerschaft nicht wagen. Wir könnten auch einen Optionszwang à la FDP einfordern – dann müssen sich hier geborene Jugendliche mit 18 Jahren für einen Paß entscheiden. Doch dann gibt es wieder massiven Druck, nicht nur aus konservativen Herkunftsfamilien.
Hätte ich mich mit 18 Jahren definitiv für einen Paß entscheiden müssen, wäre ich türkische Staatsbürgerin geblieben – wem nützt also ein solcher Zwang? Die Bündnisgrünen sind nicht die geistigen Wegbereiter der Unionskampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Der eigentliche Hintergrund der Konservativen ist ihr gegenwärtiges politisches Identitätsproblem: Die Macht ist weg, die Regierungspolitiker sind beliebter als die eigenen Prominenten, und mit dem sich ausbreitenden Weltbürgertum hat man auch so seine Probleme: Deshalb rudert ein Teil der Union nun entschlossen zurück in nationalistisches Fahrwasser.
Gäbe es die Debatte um Mehrstaatlichkeit nicht, würden die Unionsfundis den Konflikt woanders zuspitzen. Gegen das elternunabhängige Geburtsrecht auf einen deutschen Paß machen sie bereits mobil, und deshalb ist die Union als Ganzes im Moment auch nicht politikfähig. Die unionsinterne Kompromißlinie „Integration ja – Doppelstaatsbürgerschaft nein“ hilft niemandem, weil sie jede offene Diskussion verhindert – sowohl über den möglichen Nutzen der Mehrstaatlichkeit als auch über wirkliche Integration.
Rot-Grün hat dagegen alle Chancen, wenn unaufgeregt über alles diskutiert wird, was die Debatte voranbringt: eine Schutzklausel gegen Verfassungsfeinde – warum nicht, wenn daraus kein neuer Radikalenerlaß wird? Gleiches gilt für eine Debatte über Zumutungen einer Integration auch für MigrantInnen: vom Bemühen um den Erwerb der deutschen Sprache bis hin zur Respektierung eines Familienrechts, das dem Patriarchat enge Grenzen setzt.
Dadurch wirken wir nicht nur Ängsten bei den heutigen Deutschen entgegen. Wir schaffen so auch den Übergang zu dem, wofür ein neues Staatsbürgerschaftsrecht nicht mehr als die Grundlage sein kann: eine offene und tolerante, aber auch konfliktfähige Zivilgesellschaft. Özlem Isfendiyar
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