: Nicht erst ab 1933 –betr.: Artikel über das Landesforum zur Ausstellung „Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht 1941-1945“ im Kieler Landtag, taz-Hamburg vom 11. Januar 1999
1. Der Nationalsozialismus war in seinen vielen ideologischen, weltanschaulichen, gesetzlichen und sprachlichen Grundlagen lange vor 1933 in der deutschen Gesellschaft präsent (z.B. darwinistische und biologistisch-rassistische Welt- und Menschenbilder, Antisemitismus, obrigkeitsstaatliche und autoritäre Charakter- und Gehorsamsstrukturen...). Diese wurden (...) mit dem aktiven Aufbau der nationalsozialistischen Bewegung und deren Integrationsfigur Adolf Hitler konkretisiert, beschleunigt und ihre aktive Umsetzung wurde ermöglicht.
Die (...) fahrlässigen Beschränkungen und Ungenauigkeiten in bezug auf die Rolle und Funktion der Reichswehr/Wehrmacht auf dem Landesforum, die Beschränkung der Analyse auf das Datum ab 1933 (...) und der vermeintlich erst zu diesem Zeitpunkt stattgefundenen Aktivierung und „Integration“ der Reichswehr/Wehrmacht in den nationalsozialistischen Machtapparat und die Vorbereitung des verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskrieges, verschleiert und verharmlost nochmal wieder die aktive (...) Rolle des „militärisch-industriellen Komplexes“ schon in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik.
Historisch vielfältig belegt ist, daß die Reichswehr und der ,militärisch-industrielle Komplex' in der „Weimarer Republik“ umstandslos, aktiv und ideologisch aggressiv (...) sofort ab 1918/19 die auch mögliche militärische Revision der Ergebnisse des von den Deutschen begonnenen und verlorenen I. Weltkrieges (...) plante. Die neuerliche Aufrüstung und Kriegsplanung – zum großen Teil heimlich und illegal – wurde im vielfältigen Geflecht des konservativ-rechtsradikalen Militärs mit staatlichen Strukturen und politischen Milieus etc. vorangetrieben, entgegen dem von Jacobsen so stark betonten Primat der Politik. (...) Der NS-Staat konnte – abgesehen von einzelnen Ausnahmen – überhaupt erst mit dieser auf gegenseitiger Bestätigung und Förderung beruhenden Gewißheit und Sicherheit seitens des Militärapparates im Rücken die (...) Pläne zur Durchführung des zweiten Weltkrieges vorantreiben.
2. Jede Form der militärischen Handlung jenseits umfassender politischer Lösungen von gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Konflikten (...) war und ist aus meiner Sicht verbrecherisch, unter anderem deshalb, weil es den Beteiligten automatisch alle Humanität und sozialen Regeln (...) qua struktureller Gewalt nimmt und damit die Menschen (...) zu potentiellen Tätern/Mördern und Opfern macht. Diese grundsätzlich moralische Frage wird – auch vor dem Hintergrund der systematischen Militarisierung der Außenpolitik – wohlweislich nicht thematisiert.
3. Offensichtlich wird den ehemals beteiligten Wehrmachtsangehörigen – von verschiedenen politischen Milieus von den Stoltenbergs zu den Schmidts – nicht ermöglicht, ihre individuelle Täter/Opfergeschichte in und durch die Rolle und Funktion der Wehrmacht als aktive (...) Säule (...) des NS-Staates erkennen zu können. Sie sind die eigentlichen tragischen Personen in der Auseinandersetzung um den Nationalsozialismus und den Krieg – auch wenn sie an keiner Stelle des Geschehens aus der eigenen Verantwortung entlassen werden können. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft hat es kollektiv wie individuell (...) verhindert, diesen Betroffenen wie auch den Opfern die Möglichkeit zu eröffnen, mit der eigenen wie auch mit der gemeinschaftlich verantworteten Geschichte (...) umzugehen (...). Auch die Täter/Opfer – z.B. die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen – wie auch die anderen Opfer wurden in der nachkriegszeitlichen Bundesrepublik noch einmal politisch funktionalisiert.
Thomas A. Greifeld
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