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Ein Fußballerhaushalt mit Karbol und Branntwein

Der Oldenburger Fußballprofi Jerry Hawrylevicz liegt seit sechseinhalb Jahren im Wachkoma / Seine Familie leistet Pflege rund um die Uhr / Daß der Vater dreier Kinder überhaupt noch da ist, ist ein Wunder / Ein Familienportrait  ■ von Jochen Grabler / Fotos: Tristan Vankann

Schmucke Vorstadtbungalows, roter Klinker, Satellitenschüsseln, das Vorgartengrün kantenrein rasiert, in den Einfahrten Mittelklassewagen. Eine deutsche Dutzendgegend, frisch gebadet, so schmutzabweisend wie überall. Schlafstadt für die Pendler, kleine Flucht in die große Sehnsucht nach dem Idyll. Eine Dutzendgegend im norddeutschen Flachland, ein Dutzendhaus, ein Dutzendwohnzimmer. Wie überall hier die Couchgarnitur vor dem Kamin, Essecke, Schrankwand, der unvermeidliche Fernseher – und doch. Und doch ist alles anders. Ein Fußballerhaushalt, doch Wimpel, Pokale und Erinnerungsfotos sucht man hier vergeblich.

Mitten im Raum steht ein Krankenbett

Hier riecht es nicht nach normalbiographischer Gemütlichkeit, hier riecht es nach Füttern und Franzbranntwein, nach Karbol und Kopfkissen – in einem Wort: nach Krankenhaus. Mitten im Raum ein hohes Krankenbett, massive Eisenrohre, dicke Gummiräder, der Galgen ragt fast bis zur Wohnzimmerlampe. Und auf dem Bett liegt er. Jerzy Hawrylevicz, gerade 40 Jahre alt, zuletzt ausgeübter Beruf: Fußballprofi.Die Nase ragt spitzig aus dem noch so jungen Gesicht, das doch schon so sehr gealtert ist. Eingefallen die Wangen, die Unterlippe verschwindet fast im stets geöffneten Mund. Mühevoll rasselnd geht der Atem, im Halbstundentakt unterbrochen durch ein bellendes Husten. Seit sechseinhalb Jahren liegt er nun im Koma. Wächsern die Haut, die Ohren wie Pergament. Die Augen wandern unstet unter halbgeschlossenen Lidern. Hin und her. Und hin und her. Und fixieren plötzlich einen Punkt. Ganz diesseitig. Ein Zeichen?

Ein Zeichen?

Klar ein Zeichen. Ewa Hawrylevicz ist sich da ganz sicher, nein, sie weiß: „Ich weiß, daß mein Mann viel mitbekommt“, sagt sie. „Er zeigt schon, was ihm gefällt und was nicht. Gestampfte Kartoffeln – mag er. Reis – den mag er nicht. Den spuckt er mir durch's ganze Wohnzimmer.“ Und sie lacht. So ist das eben hier, so ist er eben, und er ist mein Mann. Ihr Mann, Pflegefall seit mehr als sechseinhalb Jahren, ja. Fordernd rund um die Uhr, auch das. Aber eben nicht der Horror für jeden Angehörigen, der betroffen ist. Eben kein lebloses Stück Holz. Eben Jerzy Hawrylevicz. Der Vater der drei Kinder! Und der ist nicht besser, nicht schlechter, nur eben anders. Und daß er überhaupt noch da ist, das ist ein Wunder.

Hätten die im Krankenhaus mehr tun können? Hätte man operieren sollen?

Jerzy Hawrylevicz, Fußballer beim VfB Oldenburg, im April 1992: „Ich bin mit den Kindern zum Spiel gefahren“, erzählt Ewa. Die kleine Monika war da gerade ein paar Monate alt, Lukasz und Joanna schon zehn und elf. „Wenigstens die zweite Halbzeit wollten wir sehen.“ Fast vier Jahre spielte Jerzy da schon für den VfB, seit er aus dem polnischen Szechyn in den deutschen Norden gewechselt war. „Die hatten gerade angegriffen und liefen zurück. Da blieb Jerzy plötzlich zurück.“ Für die Ewigkeit eines Moments sah sie ihn da stehen, mitten auf dem Platz, ihren Mann. Bis er zusammenbrach.

Wie lange war Jerzy schon tot? Waren es fünf, waren es zehn Minuten, bis der Krankenwagen endlich kam? Bis der Notarzt die verzweifelten Wiederbelebungsversuche von Co-Trainer Klaus-Peter Nemet beendete und Jerzy per Elektroschock wieder auf die Erde zurückholte. Und dann noch dreimal mehr, weil Jerzy auf dem Weg zum Krankenhaus sich noch dreimal verabschiedet hatte. Waren es fünf, waren es zehn Minuten, in denen Jerzys Gehirn keinen Sauerstoff bekam und mehr und mehr abstarb? Hätten die im Krankenhaus mehr tun können? Hätte man nicht operieren sollen? Hätte man was retten können? Hätte, hätte – Fragen von vorgestern. Keine Fragen mehr für Ewa. „Ich habe immer gesagt, ich mache den Ärzten keinen Vorwurf. Man hat so, man hat anders entscheiden können.“ Sie ist schließlich Krankenschwester, sie weiß, wovon sie spricht.

Unsicherheit statt Bitterkeit

Keine Bitterkeit. Damals nicht und heute auch nicht. Unsicherheit, „ja klar, mein Deutsch war damals nicht so gut. Ich habe nicht alles verstanden.“ Und dann natürlich der Schock. Denn was sie sehr wohl verstanden hat, das war die Prognose der Ärzte: „Die haben gesagt: Ihr Mann, der lebt vielleicht noch fünf Tage. Nicht mehr.“ Fünf lange Tage am Bett ihres Mannes in der Intensivstation. Fünf Tage hoffen, bangen, beten. Dann waren es sechs Tage, sieben, mehr und mehr. „Und nach zwei Wochen haben sie ihn dann entlassen. Da ist ein Sozialarbeiter gekommen und hat gesagt, Sie kriegen ihren Mann nach Hause. Als ich gefragt hab', wie ich das machen soll, hat er nur gesagt, daß sie mir Jerzy notfalls auch vor die Tür stellen.“

Sympathie und Hilfsbereitschaft

Damals schon, mitten in der Not, hatten sich reichlich Freunde und Kollegen um die Familie gekümmert. Eine wahre Welle der Sympathie und Hilfsbereitschaft schwappte über Oldenburg. Noch aber ohne eine direkte Auswirkung. Was für Jerzy blieb, war ein Altenpflegeheim. Aber nur für ein halbes Jahr. „Die Kinder haben gemeckert: Du bist nie da, mit Dir kann man gar nicht reden. Und sie hatten recht. Also haben wir Jerzy nach hause geholt.“

Monika kennt Papa nicht anders

Sechs Jahre ist das nun her. Seitdem hat die Familie die unpraktische Dreizimmerwohnung im ersten Stock gegen das schmucke kleine Bungalow eingetauscht. Und die Kinderseelen hatten Zeit, in die neue Situation hineinzuwachsen. „Für die beiden Großen war's schwer. Die haben lange gebraucht, ich hab' ihnen auch die Zeit gelassen. Ich hab' sie nie gezwungen, den Papa im Krankenhaus zu besuchen. Monika dagegen – die kennt ihren Papa ja gar nicht anders.“ Monika war dreieinhalb, als eine Sandkistenfreundin sagte, sie habe doch gar keinen Vater. „Da ist sie mit ihrer Freundin reingekommen, die beiden haben sich vor das Bett gestellt, und Monika hat gesagt: Siehste, ich hab' doch einen Papa!“

Sechs Jahre Pflege rund um die Uhr. Neben der Erziehung der Kinder. Neben dem Schichtdienst im Krankenhaus – der alles andere als üppig bezahlt wird. Unmöglich zu schaffen, eigentlich. Aber eben nur eigentlich. Denn da war noch der polnische Familiensinn. Sechs Jahre, in denen immer einer aus Polen da war, um Jerzy zu pflegen: Mutter, Vetter, Schwager – alle. Und da war die Hilfsbereitschaft. „Ohne die Spenden hätten wir es nicht geschafft.“

Sechs Jahre, in denen Jerzy nicht vergessen wurde – auch wenn die erste große Welle der Hilfsbereitschaft mittlerweile abgeebbt ist. Sechs Jahre, in denen es immer wieder Benefiz-Freundschaftsspiele für Jerzy und seine Familie gab. Die Bayern beispielsweise waren die ersten, die sich zur Hilfe bereiterklärten. Die ehemaligen Oldenburger Spieler Krzystof Zajak und Thomas Gerstner regten vor drei Jahren eine Spendenaktion über die Mannschaftskapitäne der Bundesliga an. Boxweltmeister Darius Michalczewski kam vorbei und überreichte einen dicken Scheck. Das half.

„Kann man helfen?“, fragten Zeitungen und Fernsehen

Sechs Jahre, in denen immer mal wieder die Sportredaktion der heimischen Oldenburger Nordwest-Zeitung anfragte, ob und wie sie helfen könnte. Das Fernsehen war mehrfach da, zuletzt hat die „Brigitte“ einen Bericht über die Familie gemacht. Sechs Jahre, in denen sich manche Menschen als stabile Freunde erwiesen haben: Der Filialleiter der Bank, der sich immer noch um das Spendenkonto kümmert.

Oder Kasimir Jablonski, der ehemalige Masseur des VfB, der immer noch Tag für Tag vorbeikommt oder jemanden aus seiner Praxis schickt, um mit Jerzy Bewegungstherapie zu machen. Kostenlos.

Mittlerweile kümmert sich auch die Spielergewerkschaft VDV mit ihrem neuen Härtefonds um die Familie. „Den entscheidenden Anstoß“, sagt vdv-Geschäftsführer Ernst Thoman, „hat Thomas Gerstner gegeben.“ Wieder einmal. Bei der Gala zum Finale des DFB-Hallen-Cups hat er Thoman im vorletzten Jahr auf den Fall Hawrylevicz aufmerksam gemacht. Seitdem bemüht sich die Spielervertretung um Hilfe.

In der Vorbereitungszeit für die nächste Saison soll es ein Benefiz-Freundschaftsspiel von Werder Bremen gegen Schalke 04 geben. Schließlich war Ex-Werder-Coach Wolfgang Sidka 1992 Spielertrainer in Oldenburg, und der Manager hieß damals Rudi Assauer. Spontan haben beide auf Nachfrage der vdv ihre Bereitschaft zur Hilfe zugesagt. Auch der Dortmunder Profi Steffen Freund hat unlängst nach einer Autogrammstunde, bei der ein fünfstelliger Betrag für den Härtefonds des vdv zusammen gekommen war, „ausdrücklich Wert darauf gelegt, daß ein Teil des Geldes der Familie Hawrylevicz zur Verfügung gestellt wird“, erzählt Thoman.

Nackenschläge und Hilfen gab es immer

Spenden. „Ohne die Spenden wären wir nie über die Runden gekommen.“ Ewa Hawrylevicz sagt das so unsentimental, wie sie ihr komplettes Schicksal angenommen hat. Die Nackenschläge wie die Hilfen – es kommt, wie es kommt. „Wissen Sie, ich plane nichts.“ Wie es weitergehen wird?

„Wir werden sehen“, sagt die Frau. „Oft wird so etwas ganz, ganz schnell vergessen“, sagt Thomas Gerstner, der viel dazu beigetragen hat, daß es im Fall von Jerzy Hawrylevicz anders gelaufen ist. Ernst Thoman ist überzeugt, daß die vdv auch den DFB überzeugen kann, die Familie des Ex-Profis finanziell zu unterstützen. Es gehört sich einfach“, sagt Thoman, „daß wir an Jerzy Hawrylevicz denken.“

Diese Reportage erschien zuerst im Fußballmagazin Hattrick. Wir danken für die freundliche Genehmigung und weisen auf das Spendenkonto von Jerzy Hawrylevicz hin: Oldenburgische Landesbank, BLZ: 280 200 50, Konto-Nr.: 124 828 24 00.

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