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Unrealistische Vorstellungen

Amerikas Rentenversicherung ist in die Krise geraten. Kann der Bürger besser für sich sorgen als der Staat? Präsident Clinton schlägt jetzt eine Reform vor  ■ Aus Washington Peter Tautfest

„Sie können die hundert Dollar sofort haben“, bietet Henry Aaron vom Brookings Institut an, „oder Sie warten einen Monat und bekommen dann eine höhere Summe.“ Mit einem Gedankenspiel erklärt er gern das Wesen der Rentenversicherung: „Um welchen Mindestbetrag müßte sich der Hunderter vermehrt haben, damit Sie der Versuchung widerstehen, das Geld sofort zu bekommen?“ Die meisten Menschen würden für 125 bis 150 Dollar zusätzlich einen Monat warten. Umgerechnet wäre das eine jährliche Verzinsung von bis zu 12.875 Prozent. „Rentenversicherung gibt es, weil die meisten Menschen unrealistische Vorstellungen vom Sparen haben.“

Amerikas Rentenversicherung ist jedoch wie die deutsche in die Krise geraten und zum politischen Zankapfel geworden. Clinton hat sie ins Zentrum seiner Rede zur Lage der Nation gestellt und versprochen, die für die nächsten 15 Jahre erhofften Haushaltsüberschüsse von insgesamt 4,4 Billionen Dollar zu 62 Prozent in ihre Sanierung zu stecken. Wieso die USA bei Vollbeschäftigung Probleme mit der Altersversorgung haben, liegt an den gleichen Ursachen, die den europäischen Rentenversicherungen zu schaffen machen, vor allem der Altersverteilung in der Bevölkerung.

Social Security, vom Sozialreformer Roosevelt 1935 ins Leben gerufen, behält vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber je nur 6,2 Prozent des Gehalts ein, dafür betragen aber die Leistungen bei Auszahlung weniger als zwei Drittel der deutschen Rente. Zwar schwimmt Amerikas Rentenkasse zur Zeit noch in Geld. Aber ab dem Jahr 2013 muß sie mehr Geld auszahlen, als sie einnimmt, und im Jahre 2030 wird sie pleite sein.

Der Grund: 1998 ernährten 100 Arbeitnehmer 30 Rentenempfänger, im Jahre 2031 werden es 50 sein. Das Niveau der ohnehin niedrigen Renten kann nur gehalten werden, wenn die Menschen sich später pensionieren lassen oder die Beitragssätze steigen. Das hat jene auf den Plan gerufen, die schon immer der Auffassung waren, daß der Bürger besser als der Staat für sich vorsorgen kann.

Michael Tanner vom libertären Cato Institut macht eine Musterrechnung auf, nach der eine Familie, die lebenslang ihre Rentenbeiträge selbst in einen Rentenfonds investiert, bis zum Pensionsalter drei- bis fünfmal soviel Geld ansparen kann, wie es die Social Security für sie täte.

Daß das eine rabulistische Milchmädchenrechnung ist, nimmt nichts von ihrer Suggestivkraft. Die private Altersvorsorge ist Risiken ausgesetzt, und die staatliche Rentenversicherung begünstigt die untersten Einkommensschichten. Bei der staatlichen Rentenversicherung sind die Erträge garantiert, bei der privaten Vorsorge nur die Beiträge. Die staatliche kann darüber hinaus den Lebenshaltungskosten angeglichen werden und wird so lange gezahlt, wie der Rentner lebt.

Clinton nun hat den Ball der Privatisierer aufgegriffen – anders bekommt er für eine Rentenreform keine Mehrheit – aber mit einem Kniff: Vom Geld, das aus den Haushaltsüberschüssen in die Rentenkasse fließt, soll ein Teil an der Börse angelegt werden, wo es – zumindest derzeit – höhere Gewinne als bei festverzinslichen Anlagen gibt. Außerdem will Clinton 500 Milliarden Dollar für die Förderung von privaten Sparguthaben ausgeben, besonders für Einkommensschwache. Wie das geschehen soll, ist noch unklar, entweder bekommen Sparer monatlich einen Betrag vom Staat zu ihrer Spareinlage dazu, oder der Staat fördert das Sparen durch eine einmalige Zahlung als Startkapital.

Daß der Staat mit 700 Milliarden Dollar als Investor an die Börse gehen will, erschreckt jedoch den Chef der Zentralbank, Alan Greenspan, der letzte Woche vor dem Haushaltsausschuß aussagte. „Damit könnte der Staat mehr Einfluß auf die Wirtschaft nehmen als durch jede Gesetzgebung“, erklärt Bill Archer, Vorsitzender des Haushaltsausschusses. Würde der Staat zum Beispiel in solche Firmen wie Microsoft oder die Tabakindustrie investieren, gegen die er zugleich prozessiert? Würde er Aktienkäufe von Umweltauflagen abhängig machen? Letztlich entzündet sich an der Frage der Renten ein Streit um die Rolle des Staats und das Überleben der Solidargemeinschaft.

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