: Zukunft: Lollibeschuß
■ 4. Filmsymposium: Heraus aus dem Palast, hinein in den PC
Auch gestern ist das Schreckliche passiert! Der Gewinner des hochkultivierten Radio-Bremen-Journalrätsels (Lösungswort: Peter Bichsel) entschied sich nicht für das herrliche Glockekonzert, nicht für das wunderbare Erich-Kästner-Kompendium, nicht für den neusten US-Roman, sondern ließ den niedrigen Instinkten freien Lauf: wählte Kinokarten. Und nur mühsam können die „betroffenen“ RB-Redakteure ihre allmorgendliche Frustration durch dieses hochkulturboykottierende Gewinnervolk unterdrücken. Immerhin wird so Tag für Tag deutlich: Das Kino lebt. Das zeigen schließlich auch die Zuschauerzahlen.
Die Tücke solcher Zahlen erhellte Knut Hickethier (Uni Hamburg) auf dem Symposium „Erlebnisort Kino“ im Kino 46. Zwar macht der steigende Kartenverkauf einen CinemaxX-Flebbe innerlich euphorisch und unternehmerisch wagemutig, doch noch immer schauen wir 350 mal öfter in den kleinen grauen Kasten in der Mahagonischrankwand als auf überwältigungswillige Leinwände. Und die gesellschaftlich so maßstabsetzende Filmindustrie ist ökonomisch ein Wicht. Angeblich nur 0,1% des BPI kann sie für sich abzweigen. Erlebniswert bedarf offenbar des Seltenheitswertes. Und er muß mit Snowboarden, Karaoke und Love parade konkurrieren. Die „Rückkehr des Kinos“ mußte deshalb teuer erkauft werden. Über die Hälfte der Umsätze, immerhin 800 Millionen Mark, wurden letztes Jahr in neue Säle und neue Technik investiert. Zur Hochrüstung der Hardware kommt eine der Software: „Schauelemente“ gewinnen an Bedeutung gegenüber der Narrration. Musterbeispiel ist für Hickethier „Titanic“, wo sinnliche Opulenz eine schwache Story einkleidet. Auch die Computergenerierung von Bildern wird wohl eine Auswirkung auf Inhalte haben. Zunehmen werden Parallelwelten – Sience fiction und Fantasie –; Körper- und Seelenerfahrungen schieben sich immer tiefer ins Irrreale hinein: Statt sich simpler Eifersucht zu widmen, wird der Film der Zukunft möglicherweise dem Zuschauer nahebringen, wie es ist, wenn ein Mensch sich selber auffrißt, während er mit Lichtgeschwindigkeit unter Beschuß von bunten Lollis um einen hyänenköpfigen Planeten kreist; oder so. Ein wenig altmodisch bewaffnet mit Norbert-Elias-Zivilisationstheorie und Adornos Kulturindustrieschelte konnte Hickethier seltsamerweise dem abgelutschten Thema „Erlebnisgesellschaft“ wunderbare Bonmots abgewinnen.
An ähnlicher Thematik scheiterte Susanne Weingarten vom „Spiegel“. Sie besaß die Chuzpe, circa einhundert Hardcore-Cineasten zu erklären, daß eine Sache namens Computeranimation existiert und daß ein gewisser Unterschied zwischen Supermario und Ware aus Fleisch und Blut besteht. Die neuen Medien nisten sich aber nicht nur in die Produktionskräfte ein. Oh nein. Sie infizieren auch die Inhalte. Einige Filme beschäftigten sich gar seit „Total recall“ und „Max headroom“ nicht ausschließlich mit Tischdeckenhäkeln oder Fiakerfahren, sondern in der Tat mit Cyberspace. Kino ist ein Teil seiner Zeit. Diese verblüffende, erstaunliche, ja, sagen wir es ruhig, umwerfende Entdeckung dominierte auch einen Vortrag von Irmbert Schenk. Hier erfuhr man, daß das Kino der 50er Jahre nicht nur der Regression zurück zur Natur fröhnte, sondern auch diverse Modernisierungstendenzen in sich aufsog. Nachdem Susanne Weingartens Vortrag endlich in der These kulminierte: „Das Kino reagiert erfolgreich auf die neuen Medien“, meinte der Kollege rechts: „Wenn sie so im „Spiegel“ schreiben würde, hätte sie echte Probleme.“ Und der Kollege links ergänzte treffend: „Wozu Referenten von weit herholen. Das bringe ich auch. Aus dem Stand.“
Theoretisieren ist schwer. Auch die feministische Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey drang aus ihrer theoretischen Verpanzerung nicht immer zu den konkreten Bildern ihres Untersuchungsobjekts „Gentlemen prefer Blondes“, Marilyns Schnuten und Zähneblecken, durch. Wie schön war deshalb ein faktengesättigter Beitrag über Kinopaläste von 1910 bis 1930. Dias zeigten romanische Burgen, gotische Kirchen, orientalische Paläste oder Grotten für bis zu 6.200 Kinobesucher von der Raumwirkung des Petersdoms. Schade, daß die Muliplexbauer nicht zuhörten, als Alfons Arns erzählte, wie einstmals die besten Avantgardepäpste, Erich Mendelsohn und Hans Poelzig, die Kinos erbauten.
Warum eigentlich gehen Menschen zu Vorträgen, wenn doch das Lesen von Essays in klugen Fachzeitschriften nicht nur einfacher und billiger ist, sondern auch das Überspringen von Langweiligem erlaubt? Jetzt wissen wir es: Es ist der Erlebniswert. Die blackbox. Live. Ganz ohne High tech. bk
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