Teils ummöbliert, teils unmöbliert

■ Die Brill-Sparkasse und der Bremer Temmen-Verlag zeigen Bernd Lasdins außerordentliche Fotodokumente über die Folgen der Wiedervereinigung auf die Wohnzimmereinrichtung und einige Ostdeutsche, die darin leb(t)en

Als bei der Berlinale 1996 die Langzeitstudie „Die Kinder von Golzow“ von Barbara und Winfried Junge lief, verfolgte eine hartnäckige Fanschar über zehn und mehr Filme hinweg gerührt das kollektive Älterwerden eines kleinen Dorfes im Oderbruch von 1961 bis 1994, während all die anderen Deppen an den neusten Hollywoodschinken kauten und schluckten. Denn was ist spannender als das Älterwerden. Schließlich haben wir es alle hinter und vor uns, trotz Oil of Olaz.

Ähnlich ergriffen-sentimental stimmt der Fotoband „Zeitenwende“. Als Diplomarbeit seines Grafik-Fernstudiums gab Bernd Lasdin 1987 die Porträts von 95 Neubrandenburgern – Single, Paare und Familien – ab. Rund zehn Jahre später überkam ihn die Neugier, und er besuchte seine beiseite gelegten Menschen aufs neue.

Jeder ist so alt, wie er sich fühlt, versucht sich diese Gesellschaft einzureden. Und dennoch erzählt Lasdins Buch hauptsächlich vom Verfall; Runzeln beugen sich keiner Fitneßideologie. Ganze Familien verfetten in der Zwischenzeit kollektiv. Mundwinkel konnten der Schwerkraft nicht länger trotzen. Zwei Personen gar haben ihre Wohnung dauerhaft unter der Erde bezogen. Allerdings sieht man auch, wie aus schüchternen Kindern gestandene Jugendliche werden.

Selbstbeschreibungen von Menschen sind wohl nicht selten Lügen, aber solche, die viel Wahres zu erkennen geben. Deshalb läßt Bernd Lasdin seine Personen diejenige Haltung einnehmen, die sie selbst sich wünschten, an einer Ecke in ihrer Wohnung, die sie selbst wählten. Der 47jährige will kein psychoanalytischer Durchblicker sein, der mehr über die Leute zu wissen behauptet als sie selbst, keiner, der andere in schutzlosen Augenblicken seelennackt abzulichten trachtet. Jeder Fotografierte hat die Freiheit, nach eigenem gusto Selbstbewußtsein, Freakigkeit, Bescheidenheit, Familienidyll zu demonstrieren. Unter den fertigen Abzug durften die Abgelichteten kurz die Quintexistenz ihres Lebens notieren. Bei dem einen dauerte das fünf Minuten, beim anderen zwei Stunden. „Mitgegeben habe ich den Leuten den Abzug aber nicht, sonst hätten sie vielleicht bei Goethe nachgeschlagen, was man zum Leben so sagt“, meint Lasdin.

Charme dieser Miniatur-Lebensresumees ist die Offenheit in der Zurückhaltung und die Zurückhaltung in der Offenheit. „Etwas klüger, aber immer noch nicht schlau.“ Worin klüger? Wo noch nicht genug? „Wir sind alle Engel mit einem Flügel und müssen uns umarmen, wenn wir fliegen wollen. Meine Kinder geben mir Kraft.“ Kraft wozu/wovor? Und wo ist der zweite Flügel abgeblieben? Nicht nur die Worte, auch die Bilder bersten vor Hinweisen, die partout nicht eindeutig werden wollen: Kinderteddys auf dem Sofa eines SED-Parteiveterans; ein riesiger TV-Apparat neben dem Bett eines 81jährigen: „Ich lebe jetzt allein... ich war viermal verheiratet“; Spielzeugorgien über dem Bett der heißersehnten Tochter; riesige Bilder mit Landschaftsidyll im Wohnzimmer einer beengt hausenden Fleischerfamilie. Und wie in den „Kindern von Golzow“ wirkt die 80er-Jahre-DDR wie eine 70er-Jahre-BRD: immer wieder Spitzendeckchen vor schweren Bücherschränken mit Cognacschwenker für die seltene Feierstunde in der Vitrine.

Viele der Porträtierten sind innerhalb der zehn Jahre umgezogen. Nicht wenige haben ihre Möbel mitgenommen und nach alter Gewohnheit gruppiert. Nur der eine oder andere Blumenstock ist verendet. Und der Hund. Bilder wurden vertauscht, nur wenig wurde ausgewechselt. Viele der Porträtierten mußten auch innerlich umziehen. Hier sind die Verluste größer. Einst 45jährige sind heute Endzeitarbeitslose. Aus einem lachenden querschnittsgelähmten Jungen wurde ein trauriger querschittsgelähmter Mann. Gesichter wurden voller. Gesichter wurden schmaler. Ein Fotobuch, das Entzifferungsarbeit für viele Stunden bereit hält.

1990 fotografierte Bernd Lasdin Menschen in Flensburg, der Partnerstadt von Neubrandenburg. Noch in diesem Jahr wird er beginnen mit seiner Serie von zweiten Besuchen. Sprechen Westdeutsche offener oder verklemmter über ihr Leben? Wie haben sie die Rezession überstanden? Gibt es überhaupt einen Unterschied? In 20 Jahren wird man wahrscheinlich diese Fotografien als schichtenübergreifendes Dokument einer Gesellschaft lesen, so wie man heute August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ oder Stefan Moses „Deutsche“ dechiffriert. bk

„Zeitenwende. Portraits aus Ostdeutschland 1986-1998“, 29.90 DM. Ausstellung in der Sparkasse Am Brill bis zum 5.März