Henning Harnisch: Schütteln und Backen
■ Freiwurfgott Christian Welp hört definitiv nicht Blumfeld im Auto
Ich kann nicht über die neue Platte von Blumfeld reden.
Aber als ich einmal Sportler war, konnte ich vor Spielen nicht schlafen, rauchte am Spieltag exakt fünf Zigaretten, aß um fünf Uhr eine Nußecke und schlürfte die dazugehörige dritte Tasse Kaffee vor dem Fernseher. Meine Augen, die eines Reisenden, der in Bukarest den letzten Zug verpaßt hat, waren auf das immer gleiche Highlight-Video meiner amerikanischen Lieblinge gerichtet, die, von pathetischer Streichermusik unterstützt, wie die Wahnsinnigen Bälle in Körbe stopften. Herzrasen und Schweißorgasmus waren wichtiger Bestandteil des durchritualisierten Spieltages und führten zu weiteren wichtigen Konstanten, wie dem Wechseln des Hemdes und der sich anschließenden Autofahrt. Dieser cholerische Höhepunkt hieß von 1988 bis 1996 die Fahrt in die Hölle durch die Hölle oder konkreter: die Fahrt von Köln nach Leverkusen. Kinder aus Nordrhein-Westfalen exerzieren die mathematische Formel Autobahn A1 und A3 ergibt Deutschland schon in der ersten Klasse durch, während das oberhessische Kind über die Ortschaft Cyriaxweimar sinniert. Nur mein Freund, das Tapedeck, verhinderte in diesen Jahren einen fiesen Unfall mehr auf der „Bahn“, wie der Mensch aus NRW seine Autobahnen liebevoll zu nennen pflegt.
Immer kurz vor der Abfahrt Leverkusen-Diaspora verbanden sich Erleichterung und angespannte Vorfreude in der Wahl eines bestimmten Songs, der über die Dauer einer Saison im Wagen erklingen mußte, um dem Autor glückliche Augenblicke zu bescheren. 1994 gehörte das Jahr musikalisch Blumfeld – nicht nur im Auto – und speziell dem Stück „Superstarfighter“. Blumfeld und Basketball vertragen sich ungefähr so gut wie Adorno und Jazz, aber Chronistenpflicht und die Möglichkeit einer verspäteten Danksagung verlangen es zu erwähnen, daß immer kurz vor der Autobahnabfahrt Diaspora- Leverkusen, zumindest in jenem Jahr, Jochen Diestelmeyer im Auto eines verstörten Fahrers ertönte.
Über die neue Blumfeld- Platte kann ich nicht reden.
Christian Welp redet 1999 definitiv nicht über Blumfeld. Aber er fährt, nachdem er eigentlich seine äußerst erfolgreiche Basketballkarriere beendet hatte, wieder mit dem Auto zum Spiel – und hört wahrscheinlich Pearl Jam. Denn der „spielstärkste Center Europas“ (S. Pesic) spielt wieder Basketball anstatt angeln zu gehen. Der Held von München unterschrieb letzte Woche einen Vertrag bei den Seattle SuperSonics.
Zur Erinnerung: Christian „Seattle“ Welp ging Anfang der 80er Jahre in die USA, spielte mit Detlef „Messias“ Schrempf für die University of Washington, wurde 1987 in der ersten Runde der NBA gedraftet, spielte dort drei Jahre, war dann sechsmal Deutscher Meister mit Leverkusen, gewann die Europameisterschaften 1993 in München durch einen verwandelten Freiwurf und grandiose Leistungen (Held von München), wurde mit Olympiakos Piräus Europapokalsieger und wechselte schließlich zu Alba Berlin, wo er sich standesgemäß mit einer Meisterschaft verabschiedete.
Jetzt ist Christian Welp endlich zu Hause, denn in Seattle lebt die Legende seit Jahren jeden Sommer in der basketballfreien Zeit. Eine schöne Vorstellung, wie der lange Welp, nach zehn Jahren sportlichen Exils, mit einem inneren Grinsen morgens unaufgeregt zum Training fährt, auf der Fahrt im Pick-Up Pearl *
Die Songs
1988: The Stooges, 1969
1989: Nirvana, Blew
1990: Pixies, Gigantic
1991: Pavement, Trigger cut
1992: Rocky Erickson, Don't Slander Me
1993: Notwist, Nook
1994: Blumfeld, Superstarfighter
1995: Guided By Voices, Motor Away
1996: Team Dresch, Fagetarian And Dyke
1997: Robert Wyatt, Free Will And Testament
1998: Elliott Smith, Between The Bars
*
Jam hört, sich bei Starbucks, einer amerikanischen Kaffeesuchtkette, einen „grande latte with a double shot espresso“ bestellt, und dann entspannt in der Halle der Sonics einen seiner feinen Würfe einstreut.
Und definitiv nicht über Blumfeld redet.
Das mache ich auch nicht, aber ich fahre ja auch nicht mehr wie ein aufgeregtes Huhn zu wichtigen Basketballspielen, sondern schlafe gut und finde neuerdings das Electric Light Orchestra prima. Das Jahr fängt schön komisch an. Wer weiß, vielleicht trifft Freiwurfgott Welp im besten Centeralter noch einen richtig wichtigen Wurf.
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