: Antarktisblumen Von Carola Rönneburg
An den noch folgenden 85 Winterabenden kann man sich verschiedenen sinnvollen Aufgaben widmen: einen Reißverschluß einnähen, ohne verrückt zu werden, zum Beispiel, oder den Gasanzünder reparieren. Befriedigend ist auch die Wiederentdeckung des Linolschnitts oder einer Flasche feinsten Portweins. Und richtig schön wird der Abend, wenn dieser Portwein zum offiziellen Getränk eines Anagramm-Kolloquiums ernannt wird.
Anagramm-Kolloquien sind längst keine verstaubte Angelegenheit mehr, wie die jüngeren Leser vielleicht denken mögen. Die Mitglieder der Anagramm-Gesellschaft Berlin, wie sie übersetzt heißt, schieben nämlich schon lange nicht mehr Scrabble-Spielsteine über den Tisch, bis die Buchstaben eines Wortes einen neuen Sinn ergeben. Nein, Staub liegt heute nur noch auf der Portwein- Flasche; ansonsten sind auch wir im Computerzeitalter angelangt und verwenden einen Anagramm- Generator (http://tick.informa tik.uni-stuttgart.de/~sibilluh/ana gramme.html). Das ist schon eine sehr praktische Einrichtung: Während sich die Anagramm-Arbeitsgruppen früher bis zu zwei Stunden mit der optimalen Neuanordnung von Buchstaben abplagten, um dann mit noch rauchenden Köpfen ihr Ergebnis vorzutragen, genügt mittlerweile ein Tastendruck, um etwa festzustellen, daß sich im „Hirschkäfer“ unter anderem ein „Fachkreis“ verbirgt.
Auf diese Weise bleibt den Anagrammatikern viel mehr Zeit für Fachgespräche und geselliges Beisammensein, was allgemein begrüßt wird. Wenn dennoch einige wenige bei den Zusammenkünften weiter zu Stift, Papier und Holzquadraten greifen, so ist das ihrem Alter geschuldet – sie können sich einfach nicht mehr von ihrem Handwerkszeug trennen.
Andere Traditionen haben überlebt. So ist es auf den Kolloquien weiterhin üblich, die Teilnehmerliste auf neue Namen hin zu überprüfen und diese im fröhlichen Wettstreit bei einem Gläschen Portwein zu enträtseln. Und in manchen Fällen wird dann ein Neuzugang zum Ehrenpräsidenten der Veranstaltung. Beim letzten Mal ging der Titel an den Berliner Verleger Klaus Bittermann – nachdem sich herausgestellt hatte, daß er als „Antarktisblume“ gelesen werden kann, aber auch als Boulevardzeitungsschlagzeile: „Knabe trat in Slum“. Der Generator steuerte schließlich mit „Satan melkt Rubin“ den Höhepunkt bei, denn selbstverständlich liegt den Anagrammen immer eine tiefere Bedeutung zugrunde – das jedenfalls behauptet ein Gründungsmitglied der Anagramm-Gesellschaft, das hauptberuflich als Verschwörungstheoretiker tätig ist und dessen Name nicht genannt werden darf.
Natürlich trifft das nicht in jedem Fall zu. Allerdings beschäftigte sich das Kolloquium jetzt – und wohl zu spät – mit Gerhard Schröder, in dessen Namen sich Unverdächtiges wie „rosa“ und „Gasherd“ finden läßt, allerdings auch „Droge“ und „Arsch“. Was jedoch wirklich hinter Gerhard Schröder steckt, fand wieder einmal der Generator heraus. Das Kolloquium umklammerte erschüttert die Portweingläser: Der Bundeskanzler ist der „Sarg der CD-Hörer“!
Wer weiß, wie die Bundestagswahlen ausgefallen wären, hätte man das rechtzeitig gewußt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen