Geist des Lötkolbens

Vor zehn Jahren starb King Tubby, Erfinder des Dub-Reggae. Die Suche nach dem Vermächtnis führt von HipHop bis House – und zu William S. Burroughs  ■ Von Nils Michaelis

King Tubby war der Mann mit dem Unterhemd. Klar, es gibt auch Bilder, auf denen der König des Dub die Krone trägt oder sich bedeutungsvolle Schriftrollen überreichen läßt, aber das war eher Maskerade – der Name legte es nahe. Showmanship und das Licht der Öffentlichkeit waren dem Elektriker und Toningenieur mit dem kleinen Bierbauch unangenehm. Es gibt dieses Foto, das sich möglicherweise als Schlüssel zur Person Osbourne Ruddocks, so Tubbys bürgerlicher Name, entziffern läßt. Es zeigt ihn vor Regalen voller Kisten und Kästen mit Werkzeug und Bauteilen, wahrscheinlich in einem Nebenraum seines Studios. Tubby lächelt mit einer schüchtern wirkenden Freundlichkeit in die Kamera. Versunken in der Welt der Apparate strahlt er Balance aus, ohne in Selbstzufriedenheit zu erstarren.

Als Künstler hatte er den Taktstock des Musikers gegen den Schraubenzieher des Technikers getauscht. Fremden erschien er als „ein sehr ruhiger, fast reserviert wirkender Mensch. Es war nicht einfach, ihm nahezukommen. Aber er empfand eine tiefe Liebe zur Musik, an der er arbeitete. Was er tat, tat er äußerst konzentriert und gewissenhaft“, erinnert sich der durch seine Radiosendungen weltweit bekannt gewordene Reggae-DJ David Rodigan, der ihn seit 1979 mehrfach auf Jamaika besuchte. „Diese Ernsthaftigkeit war die Basis seiner Kreativität.“ Seine Geräte als das grundsätzlich Manipulierbare erfahrend, erfand King Tubby in den späten sechziger Jahren Dub-Reggae.

Eine Explosion aus Echo und Halleffekten

Rodigan erinnert sich noch an den ersten Kontakt mit dieser Weiterentwicklung des Reggae: „Musik, in der Dub-Elemente auftauchten, hatte ich erstmals 1970 gehört. An einigen Stellen der Stücke gab es leichte Echoeffekte, aber das war noch kein Dub im eigentlichen Sinne. 1971 hörte ich Tubbys ,Watergate Rock‘, das sich auf der Rückseite der Larry-Marshall-Singel ,I admire you‘ befand. Der Song beginnt zunächst ganz normal. Doch plötzlich setzen diese Effekte ein, der Song ertrinkt in einer Explosion von Echo und Hall. Es hat mich umgeworfen. Es war eine neue Art von Musik, die ich da hörte.“ Reggae-Enzyklopädist Steve Barrow geht noch weiter: „Nach meiner Meinung war King Tubby eine der größten Figuren der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Zieht man den Überschwang des Superlativen ab, bleibt, daß das Fremde, das für Hörer außerhalb Jamaikas in Dub anklang, einen tiefen Eindruck hinterließ; eine Musik, prädestiniert zur vielfach besetzbaren Projektionsfläche. Nicht mehr ein verschärfter Partyspaß für die Tänzer der Ghettos von Kingston, Jamaika, avancierte Dub in neuen Kontexten gleichsam zur Geburt der Postmoderne aus dem Geist des Lötkolbens. Dub war wie ein Virus, das, in andere musikalische Systeme eindringend, ständig seine Oberfläche wechselte, und das gleichwohl immer auf seinen Ursprung verwies.

Zunächst breitete sich die Saat des Dub nach England und Amerika aus. Seit 1975 beriet Steve Barrow in seinem Londoner Plattenladen „Daddy Kool“ Kunden wie Johnny Rotten oder den Radio-DJ und notorischen Talenteendecker John Peel in Reggae-Fragen. So sprang der Funke auf die lokalen Musiker über. Neben Adrian Sherwood und seinem 1980 gegründeten Label On-U-Sounds, deren Experimente sich noch recht nah am Formenkanon des klassischen Dub orientierten, begannen andere, diesen zu überwinden. Befreiten Krach am Abgrund zu Freejazz und Punkdistortion produzierte Mark Stewarts Pop- Group in Bristol. Eine Musik, die erst durch die Klammer des Dub als Einheit erschien. Es wundert in diesem Zusammenhang nicht, daß David Rodigan bei seinen Besuchen bei King Tubby eine Jazzplattenkollektion von beeindruckender Größe vorfand.

Die US-amerikanische Rezeption verlief anders, wenngleich nicht weniger folgenreich. Zunächst begann sich Tubbys Vor- Dub-Phase zu entfalten, jene Zeit, als er Chef des Hometown-Hi-Fi- Soundsystems war, aus der auch der selbstverliehene Adelstitel stammte. DJ Kool Herc, in den späten Sechzigern von Jamaika nach New York ausgewandert, avancierte in der West Bronx zusammen mit Grandmaster Flash zum Founding Father von Rap und HipHop. Noch in Jamaika gehörte Herc zu den Bewunderern des Reggae-Toasters U-Roy, Tubbys Partner aus Soundsystem-Tagen. Der in Jamaika äußerst populäre U-Roy hatte einen eigenen Stil des Sprechgesangs entwickelt. Herc hatte außerdem gelernt, daß im Soundclash nur der bestehen kann, dessen Lautsprecher die Hosenbeine der Tänzer wirklich flattern lassen. Ein Wissen, das ab 1973 Hercs Weg zum Erfolg bahnen sollte.

Zauber des Dub in Disco und House

Mit der in den siebziger Jahren entstehenden Disco- und später House-Musik wurden die formellen Errungenschaften des Dub verarbeitet. Der Zauber des Tubby- Dub entstand u.a. durch das plötzliche Wegmischen melodietragender Instrumente. Die Melodie, im Kopf des Hörers weitergesungen, erzeugte eine Spannung, die sich erst mit dem vom Mixer plazierten Wiedereinsetzen der Melodie auflöst. Ein Prinzip, das dann erstmals von den Dub-Remixen bekannter Discostücke aufgegriffen wurde. Das Unterlaufen traditioneller Songstrukturen durch Reduktionismus wurde durch House vom Dub übernommen. Die Komposition, sonst der verbindende Überbau des Popsongs, verliert an Bedeutung. Es ist fortan der Groove der Elemente, der die Musik am Laufen hält.

Wenngleich man nicht von einem direkten Einfluß des Dub auf Acid House und Techno sprechen kann, gibt es doch zumindest interessante Parallelen: Die Höhenmodulationen einzelner Instrumente während des laufenden Stücks, für die Tubby den Equalizer nutzte, machten die freundlichen japanischen Techniker des Synthesizer-Herstellers Roland ab Werk möglich und erfanden das Schwarzpulver gleichsam ein zweites Mal. Diese inzwischen kultisch verehrten Geräte bildeten eine wichtige Voraussetzung für einen eigenständigen Techno-Sound.

Die dunkle, mysterienschwere Seite des Dub wurde in den neunziger Jahren vom New Yorker Word Sound Label aufgegriffen und in einen urbanen Sound überführt. Die von Unendlichkeit tönende Raumakustik der Sakralbauten hatte Tubby durch die ins groteske überdehnten Längen der Halleffekte recycelt. Ein religiöser Hintergrund für diese Klänge ist indes unwahrscheinlich. Rastafarianismus war nicht seine Sache, und in Fragen des Drogengebrauchs war Tubby puritanisch.

Dekonstruktivistischer Geist in der Maschine

Ebenfalls in den Neunzigern mehrten sich unter Intellektuellen die Stimmen, die am Dub das dekonstruktivistische Ding lobten. Und auch da ist was dran. Tubbys Einsatz des Mischpults trat dessen alter Rolle, dem Zweck klanglicher Authentizität oder Veredelung zu dienen, entgegen. Sein erster Dub war wohlgemerkt der Remix eines bereits vorhandenen Stücks: nicht mehr nur Variation, vielmehr neuordnende Verfremdung. Das punktuelle, sekundenkurze Einsetzen der Gesangsspur erzeugte indes nicht nur Spannung, es war gleichzeitig als Sample ohne Sampler lesbar. Die Klänge manipulierende Echokammer, der Hall, die musikfremden Geräusche, die Tubby, einfach weil sie geil klangen, in seinen Stücken verbraten hatte, sie lachten gemeinsam die Idee klanglicher Authentizität aus. Sie, die Werkzeuge der Klangkonstruktion, mußten sich unter King Tubby nicht länger peinlich hinter dem eigenen Produkt verstecken.

In seinem Ständchen zum 80. Geburtstag von William S. Burroughs wies Marcel Beyer 1994 auf einige unerklärliche Ähnlichkeiten hin, die zwischen Dub-Reggae und den Techniken und Ideen des Schriftstellers bestehen. Auf der Grundlage wilder Theorien über Burroughsche Jamaika-Aufenthalte, bewies Beyer im Erich-von- Däniken-Stil, daß die jamaikanischen Musiker des Dub-Umfelds offensichtlich dessen Vorlesungen gehört haben mußten. Verblüffend, aber der Mann hatte recht: War Tubby nicht mit dem Schraubenzieher unterwegs, zu schauen, welcher Geist in den Maschinen wohnt. Veränderte Tubby nicht deren Code, so wie Burroughs es tat, als er sich als Tonbandreparateur filmen ließ? Hatte Tubby nicht damit begonnen, den Baß in den Vordergrund der Musik zu mischen und gleichzeitig dessen Klang zu Volumina anzudicken, die Toningenieuren bis heute Rätsel aufgeben. Burroughs philosophierte auf der anderen Seite in einem Interview über die Folgen von Infraschall, also Schallwellen unterhalb des nicht mehr hör-, aber körperlich spürbaren 20-Hertz- Bereichs? Und ähnelte der zu Partikeln zerhackte Gesang des Dub nicht den Ideen zu Klangmanipulationen, die Burroughs in „Die elektronische Revolution“ beschreibt?

Wie auch immer: Tubby schmiß einen Stein in den Teich, dessen Wellen sich bis heute nicht beruhigt haben. So kann als unwahrscheinlich gelten, daß das Tubbysche Vermächtnis sich in näherer Zukunft erschöpft haben könnte.

Sein Todestag jährt sich morgen zum nunmehr zehnten Male. Steve Barrow resümiert in knapper Trauer: „Am 6. Februar 1989 wurde King Tubby von einem unerkannten Mörder erschossen. Mit dem Mord an King Tubby erbeutete der Räuber einige Dollars, Tubbys lizensierten Revolver und eine Goldkette. Die Welt der Musik und des Sounds verlor einen ihrer kreativsten und experimentierfreudigsten Geister; Musiker und Sänger verloren einen Mentor; Tubbys Familie verlor einen Ehemann, Vater und Ernährer.“