: Mäuse und Menschen Von Ralf Sotscheck
Daß sie britische Pässe hatten, war für die Londoner Boulevardpresse ein ärgerlicher Umstand. Man hätte die zwölf Passagiere, die vorige Woche ein Flugzeug auf dem Weg nach Jamaica zur Notlandung in Virginia zwangen, gerne als „typisch irische Zigeuner“ hingestellt, das schimmerte in den Berichten durch. Die zwölf stammen zwar aus Irland, leben aber in ein paar Wohnwagen auf einem Parkplatz im Londoner Stadtteil Lewisham.
Sie gehören ein und derselben Familie an, obwohl die Verwandtschaftsverhältnisse nicht ganz klar sind: Die „Travellers“, wie die irischen Fahrenden heißen, geben ihre Kinder oft in frühem Alter einer befreundeten Familie in Pflege, damit sie selbständig werden. Dabei behalten die Kinder ihren Namen oder nehmen den ihrer Pflegefamilie an – oder sie erhalten einen neuen Nachnamen.
Der US-Richter, dem die Familie nach der Notlandung vorgeführt wurde, war mit der Sache überfordert und ließ sie laufen. Der Einfachheit halber behaupteten einige englische Zeitungen, daß es sich um sechs Schwestern handle, die mit sechs Brüdern verheiratet sind und alle zwölf Driscoll heißen. Man wunderte sich, woher die Familie das Geld für einen Karibikurlaub hatte.
Warum aus dem Urlaub letztendlich nichts wurde, darüber gibt es zwei Versionen. Die Großfamilie sagt, sie habe unterwegs ein paar fröhliche irische Volksweisen angestimmt, was einem Mitreisenden nicht gepaßt habe. Er habe sie aufgefordert, den Schnabel zu halten und, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, ein Bier über die Sänger gekippt. Daraufhin habe man ihm höflich erklärt, daß man sein Verhalten für unakzeptabel halte. Daß der Pilot dann in Virginia gelandet sei und sie hinausgeworfen habe, liege wohl an antiirischen Vorurteilen. „Wir sind die Opfer“, sagte eine der Schwestern.
In Kapitän John Austins Bericht liest sich das anders. Die zwölf seien bereits voll wie Nattern – Austin umschreibt es etwas milder – gewesen und hätten noch mehr Alkohol verlangt. Als man ihnen nur ein Getränk pro Person gab, öffneten sie verbotenerweise ihre zollfreien Einkäufe – Bier, Rum und Likör. Als auch diese Vorräte verbraucht waren, liefen die durstigen Menschen im Flugzeug herum und verlangten von anderen Passagieren, ihnen Alkohol zu beschaffen. Das ging fünf Stunden lang, bis einer der Mitreisenden die Nerven verlor und ihnen das verlangte Bier ins Gesicht schüttete. Daraufhin brach hoch über den Wolken eine Keilerei wie im Wirtshaus aus. Acht Besatzungsmitglieder warfen sich auf die ungezogenen Passagiere, und für einen Moment sah es so aus, als ob die „Driscolls“ die Kontrolle über das Flugzeug erlangen würden.
Ein völlig normales Verhalten, meint die Luftfahrtpsychologin Helen Muir. „Menschen sind nicht dafür gebaut, für längere Zeit auf engstem Raum eingepfercht zu sein.“ Es komme zu „Air Rage“, eine abgehobene Variante von „Road Rage“, bei dem Autofahrer übereinander herfallen. Möglicherweise werde es bald eine Air- Rage-Katastrophe geben, glaubt Muir: „Eigentlich merkwürdig, daß es nicht schon längst passiert ist. Wenn man Mäuse derselben Situation wie Passagiere aussetzt, dann fressen sie sich gegenseitig auf.“ Da hat Kapitän Austin ja noch mal Glück gehabt.
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