: Ein Kinderspiel frißt seine Kinder
Leben in der Bundesliga (XIX): Nicht nur dem Traditionsklub Spvgg. Halbau Berlin mangelt es an Nachwuchs. Dem Tipp-Kick fehlen generell die Kids – Frauen sowieso ■ Von Mathias Stuhr
Berlin (taz) – In dem schmucklosen Gemeinderaum der evangelischen Paul-Schneider-Kirchengemeinde treibt eigentlich eine Krabbelgruppe ihr Unwesen. Heute liegen Cola- und Bierdosen auf dem Tisch. Im Hintergrund hört man eine schnarrende Feile über das Schußbein einer kleinen Metall-Figur kratzen: einer Tipp- Kick-Figur. Das Feilen und Biegen gehört beim Tischfußballspiel Tipp-Kick genauso zum Handwerk wie das nervöse Herumrennen um den Turniertisch oder das Anschneiden des schwarzweißen Balles. Echte Tipp-Kicker sind immer auch patente Hobbytheker.
„Ich weiß, viele sehen Tipp- Kick nur als Kinderspiel“, äußert sich eher resigniert Hans-Joachim Schwarz, Vorsitzender der Spvgg. Halbau aus Berlin-Lankwitz. Die erste Mannschaft dieses Klubs spielt zur Zeit zwar nur in der 2. Bundesliga Nord, ist aber trotzdem nicht bloß irgendein Verein im Tipp-Kick-Universum. 1970 entstanden, war der Klub 1973 Gründungsmitglied der 1. Bundesliga. In der „ewigen“ Bundesligatabelle ist man heute immer noch Sechster.
Jeder weiß: Richtiger Fußball ist der mit Pelé, 0:3-Debakel und so. Für eine falsche Sportart, ein „Kinderspiel“, ist Tipp-Kick aber unglaublich gut organisiert. Im Deutschen Tipp-Kick-Verband (DTKV) spielen neben der ersten und den beiden zweiten Ligen zur Zeit noch vier Regional- und fünf Verbandsligen. Es gibt auch eine Verbandszeitung, die tipp-kick rundschau. In der wohlorganisierten Idylle haben sich aber unschöne Entwicklungen breitgemacht. Sebastian Krapoth, Bundesligaspieler der TFG 82 Göttingen und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im DTKV, sieht ebenso wie Schwarz, der sich eine „Blutauffrischung“ erhofft, ein „Nachwuchsproblem“. Die rund 750 organisierten Tipp-Kick-Spieler haben einen relativ hohen Altersdurchschnitt. „Kiddies machen alles andere, Computerspiele und so“, erkennt Krapoth.
Hinzu kommt, daß beim Tipp- Kick Mädchen und Frauen nicht nur, wie bei vielen anderen Sportarten, in der Minderheit sind, sondern fast nicht existent. Unter den Erst- und Zweitligaspielern befindet sich keine einzige Frau. In der letzten Ausgabe der tipp-kick rundschau wird dieses Problem unter dem Titel „Allein unter Männern – Frauenquote beim Tipp- Kick“ sogar selbstkritisch thematisiert. In derselben Ausgabe ist auf der Rückseite allerdings auch „Bini“ zu sehen, die sich, mit einem Spitzen-BH bekleidet, von ihren „Süßen“ verabschiedet: „Ciao, Eure Bini“. Das Tischfußballgirl zeigt, wie sich Männer, auch Tipp- Kicker, die Frauen im Sport vorstellen.
Es ist ein Tipp-Kick-eigenes Phänomen, daß jedes Jahr etwa 100.000 Spielkästen verkauft werden, andererseits nur wenige begeisterte Kinder in den Vereinen hängenbleiben. So vermodern also inzwischen Millionen von Spielfeldern und Figuren in Hobbykellern und Kinderzimmern. Seit 1924 verkauft das mittelständische Familienunternehmen Mieg dieses Spiel, schon 1931 wurden 16.500 Exemplare abgesetzt. Der verkaufsmäßige Höhepunkt liegt schon 45 Jahre zurück, im „Wir sind wieder wer“-Jahr der WM 1954 wurden 180.000 Spiele abgesetzt. Der klassische Torhüter „Toni“, lieferbar in Rot und Gelb, wurde so auch nicht nach dem Skandalschriftsteller Toni Schumacher benannt, sondern nach der Bern-Legende Toni Turek.
Es muß Gründe haben, daß bei der exorbitanten Tipp-Kick- Durchdringung Deutschlands nicht mehr als 100 Tipp-Kick-Vereine entstanden sind. Den unterm Weihnachtsbaum geöffneten Kästen liegen inzwischen sogar Kontaktadressen zu Tipp-Kick-Vereinen bei, aber nur ein kleiner Bruchteil der Kinder möchte diesem Spaß organisiert nachgehen. Hans-Joachim Schwarz von Halbau sieht ein Probleme in der zunehmenden „Verbissenheit“ bei Wettkampfspielen. „Langjährige Freundschaften“ könnten immer schwerer gepflegt werden, von der einstigen Geselligkeit sei viel verlorengegangen.
Er selbst hat noch die glorreichen Halbau-Zeiten mitgemacht, als die Mannschaft 1973 Pokalsieger und 1983 „verlustpunktfrei“ Deutscher Meister wurde. Der ehemalige Berliner Vorzeigeverein, aus dem drei andere Klubs hervorgingen, stellte sechsmal den deutschen Einzelmeister. Berlin war, mit den anderen Traditionsvereinen BTV 62 Berlin (Deutscher Meister 1978) und dem TFC Eintracht Rehberge Berlin (Meister 1988, 1989), die Metropole des Tipp-Kick-Sports. Diese Zeiten sind vorbei. Der BTV und Eintracht Rehberge spielen in der Regionalliga Ost, Halbau und Celtic Berlin in der 2. Bundesliga Nord. Den Ton im deutschen Tipp-Kick geben der amtierende deutsche Meister BW Concordia Lübeck mit Starspieler Normann Koch und andere Nordstädte wie Hamburg, Hannover, Göttingen und Hildesheim an. Ostdeutschland gibt es im Tipp-Kick quasi gar nicht. Der historisch gewachsene, ausrüstungsmäßige Nachteil wirkt nach. Lachend erzählt Schwarz von dem DDR-Pendant zum westdeutschen Spiel. Mit den „Plastikmänneken“ habe er sich einmal sogar verletzt.
Das bundesdeutsche Tipp-Kick scheint gefesselt zwischen der Pflege „langjähriger Freundschaften“, die durch die zunehmende „Weiterentwicklung auf hohem Level“ (Krapoth) gefährdet sind, und der Unattraktivität der Vereine für junge Spieler und Spielerinnen sowie für solche Leute, die „einfach nur mal so“ spielen wollen. Hans-Joachim Schwarz findet überdies, daß „in den Schulen zu wenig getan wird“. Vielleicht wollen junge Menschen aber auch einfach nicht jedes Spiel gleich zum Sport hochorganisieren.
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