■ Täter, Opfer und Zuschauer nach den Gubener „Ereignissen“
: Nützlicher Rollentausch

Niemand sieht sich gern als Unhold und noch weniger gern als Feigling. Der bequemste Weg, solche Zuschreibungen zu vermeiden, besteht im Rollentausch. Aus Tätern und Zuschauern werden Opfer. Solche Entlastungsstrategien folgten der Gubener Hetzjagd mit tödlichem Ausgang auf dem Fuß.

Wir hören zum ersten: Ist nicht die Stadt Guben das eigentliche Opfer des Todesfalls? Wird sie jetzt nicht auf der von Rostock-Lichtenhagen angeführten Städteliste erscheinen? Wie werden die Investoren reagieren, die sich sowieso schon über die Maßen zieren?

Zum zweiten: Sind speziell die Gubener Bürger jetzt nicht Opfer der Medien? Sollen sie nicht als Beweismaterial des Vorurteils herhalten, nach dem die Brandenburger vom rechtsradikalen Terrorismus infiziert sind? Wird nicht die zähe Arbeit der städtischen Behörden, durch Runde Tische, Sozialarbeit etc. den Einfluß der Neonazis auszutrocknen, in der öffentlichen Meinung totgeschwiegen?

Zum dritten: Müssen nicht diejenigen Gubener, die sich schweren Herzens, aber in Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten den Fragen der Journalisten stellten, jetzt fürchten, selbst zu Opfern rechtsradikaler (und linksextremer!) Racheakte zu werden?

Und schließlich viertens: Muß nicht die Gubener Polizei, die lediglich pflichtgemäß und einer Anzeige folgend einen der Gejagten stundenlang (und in Handschellen) festhielt, jetzt mit verleumderischen Anwürfen rechnen, auch sie ein Opfer unverschuldeter Umstände?

Der ungarische Historiker Istvan Bibo hat für die Manie, sich als Märtyrer für die Untaten anderer zu stilisieren, einen prägnanten Begriff gefunden: die deutsche Hysterie. Nach Bibo hatte diese Krankheit ihre Ursache in der steckengebliebenen demokratischen Umwälzung. Sie war am Werk, als es nach dem Ersten Weltkrieg galt, sich als Opfer englisch-französischer Rachsucht zu fühlen. Der Hinweis auf die alliierten Luftangriffe immunisierte nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber dem Völkermord an Juden und slawischen Untermenschen.

Und jetzt: Ist die deutsche Hysterie nicht wieder wirksam, wenn die Gubener alles nur Denkbare, vor allem aber den verderblichen westdeutschen Einfluß auf die verwirrten Jugendlichen anführen, um schnell in die Opferrolle schlüpfen zu können? Aber Vorsicht! Ähnliche Entlastungsmechanismen sind am Werk, wenn sich die aufgeklärten Westdeutschen als Opfer der vordemokratischen Ossis fühlen. Christian Semler