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Nach dem Hype...

■ ... ist vor dem Hype: The Disciples und Reggae Revive zeigen, daß in Hamburgs Reggae-Szene eine neue Normalität einkehrt

Wie auf den legendären Raves in Manchester gehe es hier zu, gestand mir ein Freund aus Köln vor einigen Jahren bei einer der ersten großen Dub-Reggae-Veranstaltungen in der Roten Flora. Das altehrwürdige Punk- und Hausbesetzerzentrum hatte sich in ein großes musikalisches Laborato-rium verwandelt, in dem subsonische Unterwasserlandschaften entworfen und Klangwellen aus dem All empfangen wurden. All das war ungeheuer neu: die großen Boxen, die Spielereien am Mischpult, die Bässe, die man nicht nur hören, sondern fühlen konnte.

Selbst wer Reggae für eine Sache zotteliger Hippies und notorischer Kiffer hielt, konnte hier seine Abneigung ablegen und etwas entdecken: das längste Echo der Welt, die Mutter aller Remixe vielleicht, oder, um mit den Riddim-Afficionados Ballistic Brothers zu sprechen, „the original drum'n' bass“. Die Soundsystem-Aktivisten pilgerten nach London, um den Großen der Großen auf die Finger zu gucken – allen voran dem unermüdlichen Traditionshüter Jah Shaka. Inzwischen hat sich die Euphorie gelegt, und manchen der Aktivisten dämmert es, daß es vielleicht seinen Grund hat, daß die gegenwärtige Musik in Jamaika nicht mehr wie in den 70er Jahren klingt. Andererseits ist kaum einer der elektronischen Musikstile der letzten Jahre ohne ein, wie wir Apotheker sagen, gerüttelt Maß an Dub denkbar. Aber eben nicht nur.

Den Disciples, Neo-Dub-Helden der ersten Stunde und Herausgeber des Boom Shaka Laka-Reggae-Fanzines, hat es jedenfalls gut getan, ihre Finger von gewinnbringenderen Hybriden wie Drum'n'Bass oder TripHop zu lassen. Sie haben sich auf das besonnen, was sie besser können. Nämlich, den Roots-Reggae der 70er ohne jeden Kitsch mit der Abstraktion der 90er als Soundmusik fortzuschreiben. Drei Singles aus der letzten Zeit künden davon, u.a. das soulige „Mankind“ mit dem Sänger Delroy Dyer. Die Brüder Lol und Ross, die sich hinter dem Produktions- und Soundsstem-projekt verbergen, haben ihn jedenfalls gleich mitgebracht, um morgen in der Flora für Word, Sound und Power zu sorgen.

Ähnlich wie Lol und Ross repräsentiert Bob Brooks eine ausgesprochen britische Form von weißem Working-Class-Multikulturalismus, der die Liebe zur Musik der westindischen Einwanderer von Kindesbeinen an aufge-sogen hat – als alter Soulboy allerdings etwas weniger esoterisch. Bob Brooks sieht aus wie ein in Würde gealterter Skinhead, der jeden Abend mit einem Guiness in der Hand und ein paar neuen Singles unter dem Arm in seinem Pub anzutreffen ist. Wenn Burning Spear einmal das Studio One als die Universität aller Labels bezeichnet hat, dann gilt das auch für Brooks' Plattenladen als sozialem Raum. Mit archivarischer Sorgfalt huldigt er im Reggae Revive-Shop der jamaikanischen Musik-Historie zwischen Rocksteady und 70er-Roots und macht diese in Form der Impact-Re-Issue-Reihe auch der Gegenwart zugänglich. Allein die Preise scheinen gänzlich der Gegenwart zu entstammen.

Was Reggae-Rentner Brooks zusammen mit seinem alten Kumpel Stuart Hardcastle nächstes Wochenende an Plattenspieler und Mikrophon im Westwerk veranstalten wird, ist so frei von Hypes wie Nachsitzen in der Schule. Macht aber viel mehr Spaß und die Ohren frei. Tobias Nagl

The Disciples feat. Delroy Dyer: Fr, 19. , 23 Uhr, Rote Flora

Reggae Revive, Scorcha Hifi: Sa, 27. Februar, Westwerk, 22 Uhr

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