Weimar in Glanz und Dreck

Ab heute ist Weimar Europäische Kulturstadt 1999. Im Vorfeld wurden 1,2 Milliarden Mark in den Um- und Neubau von Straßen und Kulturstätten gesteckt  ■ Von Nick Reimer

Dresden (taz) – Die Deutsche Bahn fährt nicht mehr nach Weimar. Die Züge halten jetzt in der „Kulturstadt Weimar“. Seit sechs Wochen wird dort mit Premieren, Konzerten, Ausstellungen gefeiert; offiziell fällt erst heute der Startschuß für das Kulturstadtjahr 1999. Im Deutschen Nationaltheater, wo Bundespräsident Roman Herzog als Schirmherr die Festrede halten wird, übergibt die Vorgängerstadt Stockholm symbolisch den Titel „Europäische Kulturstadt“. Rund 1.000 Programmpunkte sollen fünf Millionen Besucher bis zur Jahrtausendwende locken – Weimar als neuer Mittelpunkt des Kulturtourismus.

Doch Weimar ist ein komplizierter Fall. Wie in keiner anderen deutschen Stadt prallen Glanz und Schande, Kultur und Terror, Tradition und Moderne derart drastisch aufeinander: Goethe trifft hier Buchenwald, Bach das Bauhaus, Schiller wird mit der drohenden Schließung des Nationaltheaters konfrontiert, die Verfassung der Weimarer Republik mit dem Lager für Nachkriegsoppositionelle. Entsprechend anspruchsvoll war die Aufgabe der Programmmacher: Bernd Kauffmann zeichnet als Generalbevollmächtigter dafür verantwortlich. 63 Millionen Mark hatte sein Team zur Verfügung – die „billigste“ Kulturstadt aller Zeiten. 33 Millionen kommen von Thüringen, 16 Millionen vom Bund, 1,2 Millionen von der EU, der Rest von Sponsoren. Zum Vergleich: Stockholm kostete 200 Millionen, Kopenhagen gar 315 Millionen Mark. Kauffmann will mit seinem Programm „den ganzen Glanz und Dreck der Stadt“ sichtbar machen.

Die rund 60.000 Weimarer erleben eine ganze Reihe internationaler Renommee-Projekte. So wird etwa die katalanische Performance-Gruppe Fura del Baus ihre deutsche Erstaufführung des Internet-Stücks „Faust:Version 3.0“ zeigen, Bob Wilson sein „Death, Destruction & Detroit III“, eine Kopie des Goethe-Hauses die Diskussion über Original und Plagiat entfachen. Im ehemaligen KZ Buchenwald werden 250 Goethe- Zeichnungen ausgestellt, das Schillermuseum zeigt Zeichnungen von Buchenwald-Häftlingen.

Seit 1985 wird jährlich der Titel „Kulturstadt Europas“ vergeben. Weimar erhielt im November 1993 die Zustimmung der EU-Kulturminister, setzte sich gegen Avignon, Bologna und Prag durch. Seitdem wurden 1,2 Milliarden Mark aus öffentlicher und privater Hand in den Neu- und Umbau von Weimars Straßen und Kulturstätten gesteckt. Zu den ehrgeizigen Projekten der Stadtplaner gehörten die Sanierung des Nationaltheaters und die Erneuerung von Stadtschloß und Goethe-Nationalmuseum. Zeitweise drängten sich mehr als 60 Baustellen in Weimars Stadtkern. Eine der letzten wird Bahn-Chef Johannes Ludewig heute schließen, indem er den neuen Bahnhof der „Kulturstadt Weimar“ eröffnet.