Die harten Wurzeln des Rassismus

Die Iren litten unter dem englischen Rassismus, wandelten sich aber selbst zu Rassisten gegenüber den Schwarzen, als sie nach Amerika ausgewandert waren. Der „proletarische Intellektuelle“ Theodore W. Allen folgert daraus, daß erst die Sklaverei die sozio-ökonomische Grundlage des weißen Überlegenheitsdenkens schuf  ■ Von Ralf Sotscheck

Viel ist geschrieben worden über die Wurzeln des Rassismus, in den USA streiten Akademiker seit mehr als einem Jahrhundert darüber. Theodore W. Allen ist kein Akademiker, sondern ein „proletarischer Intellektueller“, der die „noch nicht zu Ende gebrachte Bürgerrechtsschlacht gegen den Rassismus“ führt, wie er sich selbst beschreibt. Im ersten Band der „Erfindung der weißen Rasse“ sucht Allen Antwort auf die Frage, ob sich die Sklaverei in Amerika aus einem existierenden Rassismus entwickelte oder ob die Sklaverei erst ein weißes Überlegenheitsdenken geschaffen hat.

Der psychokulturelle Ansatz geht von einer vorkolonialen rassistischen Geisteshaltung aus, während Allen diese Theorie und ihre Hauptvertreter Carl Degler und Winthrop Jordan als „offensichtlich inadäquat und irrig“ abtut. Er argumentiert hingegen sozioökonomisch: Rassismus sei eine Folge der Sklaverei, er dient als System sozialer Kontrolle. Um seine These zu untermauern, bezieht Allen die unterschiedlichen historischen Bedingungen der Kolonisation in seine Studie mit ein, um die verschiedenen Systeme dieser sozialen Kontrolle bestimmen zu können.

Daß Rassismus sich nicht unbedingt an der Hautfarbe festmachen muß, belegt Allen anhand des irischen Beispiels. Die englischen Tudors wandten in Irland dieselben rassistischen Mechanismen an wie in den englischen Kolonien in Amerika, den späteren Südstaaten. Dieser Spiegel von Rassismus und weißer Überlegenheit nimmt den Hauptteil des ersten Bandes ein – immerhin sieben von insgesamt acht Kapiteln.

Die Parallelen sind zahlreich: In Angloamerika galt der Ausdruck „negro“ als Synonym für Sklave, im englischen Recht entsprach die Bezeichnung „hibernicus“, der lateinische Name für die Iren, dem juristischen Begriff für „unfrei“; die Vergewaltigung einer Sklavin war nach dieser Rechtsauffassung ebensowenig ein Verbrechen wie die Vergewaltigung einer Irin; und wer einen Sklaven oder einen Iren tötete, mußte dem Eigentümer höchstens Schadensersatz leisten. Anglonormannische Geistliche erteilten mit der Begründung Absolution, daß es „nicht sündhafter ist, einen Iren zu töten als einen Hund oder irgendein anderes Vieh“. So konnten sich die Iren in die Situation der unterdrückten Sklaven in Amerika einfühlen. Im frühen 19. Jahrhundert verglich der „katholische Befreier“ Daniel O'Connell in seinen Reden und Aufrufen die Bestrebungen der irischen Landpächter mit dem Kampf für die Abschaffung der Sklaverei in Amerika. Als Frederick Douglass, ein US-Aktivist gegen Sklaverei, im Jahr 1845 in Dublin eine Rede hielt, wurde er als „schwarzer O'Connell“ vorgestellt.

Mitte des vorigen Jahrhunderts löste die Kartoffelpest eine Hungersnot in Irland aus, die Iren wanderten in Massen in die USA aus. In ihrer neuen Heimat wurden sie jedoch zu vehementen Fürsprechern der Sklaverei. Allen schreibt, daß es für die irischen Auswanderer wichtig war, sich von den Schwarzen zu distanzieren, damit sie nicht genauso unterdrückt wurden. Gefördert wurde diese Denkweise von den Sklavenhaltern und der katholischen Hierarchie. Beide hatten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, kein Interesse daran, daß die irischen Auswanderer sich die Sache der Sklaven zu eigen machten. Allen sieht im Rollenwandel der Exil-Iren einen Beweis dafür, daß der Rassenbegriff relativ und der Rassismus ein politisches Konstrukt ist.

Wenn man den Ursprung des weißen Rassismus bestimmt, so Allens Credo, trägt man gleichzeitig zu seiner Abschaffung bei. Sein Buch ist vollgestopft mit akribisch recherchierten Informationen, an manchen Stellen entsteht der Eindruck, daß er aufgrund der Materialfülle ein wenig ins Schwimmen gerät. Dabei sind die Fußnoten in der deutschen Übersetzung schon um zwei Drittel reduziert.

Doch Allens Buch ist wichtig für die Rassismusdiskussion, weil es bisher kaum derartige Forschungen gibt. In seinem Vorwort wünscht sich Jost Müller weitere Studien, um die „in der BRD noch in den Anfängen steckende Debatte“ anzustoßen. Das liege auch daran, daß „eine anderen Ländern kaum vergleichbare intellektuelle Provinzialisierung, ja Verödung festzustellen ist, in der die letzten Verbindungen einer universitären Linken ... und der politisch informell agierenden Linken gekappt zu werden drohen“.

Theodore W. Allen: Die Erfindung der weißen Rasse. Rassistische und soziale Kontrolle. Band 1. Aus dem Englischen von Dagmar Ganßloser und Jürgen Schneider. ID Verlag, Berlin 1998, 338 Seiten, 48 Mark. Der zweite Band von Allens Studie wird im Herbst 1999 erscheinen