: HIV-Medizin nach Vergewaltigung?
■ Fragen zu Bremer Präzedenzfall: Ist es medizinisch ratsam, vergewaltigten Frauen Medikamente zur HIV-Prophylaxe zu geben? Hamburger Experte antwortet
Eine junge Bremerin hat einen Präzedenzfall geschaffen. Sie hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war, Prophylaxe-Medikamente gegen eine HIV-Infektion bekommen, weil sie fürchtete, der unbekannte Vergewaltiger könnte HIV-positiv sein (taz v. 22.2.). In der Bremer Klinik Links der Weser war die Anfrage des Vergewaltigungsopfers nach einer HIV-Prophylaxe abgewiesen worden, die Medikamente seien nicht bekannt. Erst in der St. Jürgen-Klinik bekam sie die Medikamente. Wie die wirken und was für Prophylaxe nach einer Vergewaltigung spricht, fragte die taz Priv. Doz. Andreas Plettenberg. Er führt derzeit in der Hamburger HIV-Ambulanz am Klinikum AK St. Georg eine Studie zur sogenannten „Post-Expositions-Prophylaxe“ durch.
taz: Wie groß ist das Risiko einer HIV-Infektion überhaupt?
Andreas Plettenberg: Es wird gesagt, daß beim sexuellen Kontakt die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung im Mittel bei 1:300 liegt. Man kann jedoch davon ausgehen, daß bei einer Vergewaltigung das Risiko wesentlich höher liegt, weil es viel wahrscheinlicher ist, daß es da zu vaginalen Schleimhautverletzungen gekommen ist. Das könnte für Prophylaxe sprechen. Dagegen spricht aber, daß es in diesem Fall überhaupt keinen Hinweis dafür gibt, daß der Täter HIV-infiziert ist. Grundsätzlich muß man, wenn man entscheidet, ob eine medikamentöse Prophylaxe durchgeführt wird oder nicht, immer im Sinne der Patienten zwischen Nutzen und Risiko abwägen.
Was würden Sie im Fall einer Vergewaltigung durch einen Unbekannten entscheiden?
Die Medikamentenabgabe ist in diesem Fall eher nicht angezeigt – insbesondere weil die Medikamente Nebenwirkungen haben. Welche Langzeitwirkungen, das ist bis heute nicht 100prozentig bekannt. Es gibt dazu nur wenige Untersuchungen für HIV-negative Menschen. Wir wissen, daß sie den Fettstoffwechsel und den Glukosehaushalt verändern können und auch Auswirkungen auf ein später zu zeugendes Kind haben können. Dies alles muß man vor Augen haben. Nur wenn weitgehend sicher ist, daß die Index-Person – der Vergewaltiger in diesem Fall – HIV-infiziert ist, würde eine klare Indikation bestehen.
Der Täter ist weg. Das ist das Problem. Seinem Opfer wurde aber Blut abgenommen – um einen AIDS-Test durchzuführen ...
Nein, das kann man so nicht sagen. Die Risiken, daß klassische Geschlechtskrankheiten wie Syphilis übertragen wurden, sind viel größer. Schon aus diesem Grund ist die Blutabnahme erforderlich. Auch ist das Risiko, daß Hepatitis B übertragen wird, viel größer als das der HIV-Infektion. Für die Blutabnahme gibt es viele Gründe.
Wenn in diesem Fall HIV übertragen wurde, hat die Frau eine drastisch verminderte Lebenserwartung – anders als bei Syphilis.
Das stimmt für die Syphilis, aber nicht für die Hepatitis, die – wenn auch nicht oft – so doch auch zum Tode führen kann. Also nochmal: Wenn klar ist, daß der Täter HIV-positiv ist, wäre das eine eindeutige Indikation. Wenn es Hinweise gibt, daß er HIV-positiv sein könnte – weil er das selbst gesagt hat oder aus anderen Gründen – dann ist es ein Grenzfall. Man könnte sich dabei zwar auf die sture Linie zurückziehen und sagen, in den Richtlinien steht, daß die HIV-Infektion bekannt sein muß. Aber man kann auch sagen, daß aufgrund des vorhandenen Risikos eine medikamentöse Prophylaxe sinnvoll ist. In jedem Fall sind also individuell Risiko und Nutzen abzuwägen. Wenn es aber letztlich keinen Hinweis auf eine HIV-Infektion gibt, würde man durch die Prophylaxe dieser Frau möglicherweise mehr schaden als nutzen. Selbst in Fällen bei denen die Person sicher HIV-positiv ist, werden rund 50 Prozent der Prophylaxen vor Ablauf der angestrebten vier Wochen abgebrochen – und zwar weil die Prophylaxe schlecht vertragen wird.
Unter Medizinern werden doch durchaus Grenzfälle diskutiert – und auch entschieden. Der Fall der vergewaltigten Bremerin scheint einer zu sein – sie hat die Medikamente bekommenn. Es wird auch von Prostituierten und Freiern berichtet, bei denen beispielsweise der kaputte Präser während des sexuellen Kontakts Anlaß zur Sorge gibt. Wie würden Sie da entscheiden?
Grenzfall bedeutet für mich, daß es nur Hinweise gibt, daß beim, sagen wir mal Täter, eine HIV-Infektion vorliegt. Bei vergewaltigten Frauen gibt es dafür in der Regel vermutlich keine Belege.
Muß da nicht wenigstens eine kompetente Beratung hinsichtlich einer Prophylaxe stattfinden?
Ich gehe davon aus, daß die in der Regel stattfindet. Es gibt Institutionen, die sich mit großer Erfahrung solcher Problemfälle annehmen.
In Bremen gibt es solche Beratung nicht. Ein Problem, wenn man weiß, daß diese Medikamente schnell nach einer Infektion verabreicht werden müssen.
Man muß wissen, daß die Medikamente nicht zu 100 Prozent schützen. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Infektion übertragen wird, nimmt um 80 bis 90 Prozent ab. Grundsätzlich hängt die Wahrscheinlichkeit einer Infektion nach einem derartigen Kontakt von verschiedenen Faktoren ab, beispielsweise ob Blut übertragen wurde, wie lange der Kontakt anhielt und ganz wesentlich davon, ob der HIV-Infizierte im fortgeschrittenen Stadium ist. Dann ist er wesentlich infektiöser. Auch spielt eine Rolle, wie gut das Immunsystem des Opfers funktioniert. Die Indikation zur Prophylaxe sollte nicht aus dem Bauch gestellt werden, hierfür ist rationales Abwägen notwendig.
In einer Bremer Klinik hat man sich für die Vergabe entschieden. Viele sagen, das sei eine echte Gewissensfrage. Wird das Mittel in anderen Ländern großzügiger eingesetzt, in den USA beispielsweise?
Die arbeiten nach sehr ähnlichen Richtlinien. Aber möglicherweise gibt es Unterschiede in speziellen Situationen. Ich habe gehört, daß in den Staaten eher eine Prophylaxe gegeben wird, wenn beispielsweise Homosexuelle Sexualkontakte mit Unbekannten in einen Club hatten, in dem vermehrt Personen der Hochrisikogruppe verkehren.
Mittlerweile ist die Vergabe des Medikaments nicht nur für berufliche Prophylaxe, also im Krankenhaus, zugelassen – sondern auch nach sexuellen Kontakten.
Ja, es gibt nach längerem Abwägen jetzt Empfehlungen zur Prophylaxe nach sexuellen Kontakten. Die Aids-Beratungen haben zunächst befürchtet, daß es einen starken Run auf die Medikamente geben würde. Aber der Nachfrageboom kam nicht. Wir untersuchen in einer Studie, ob sich bei Ausgabe einer Notfallmedikation das Sexualverhalten weg von Safer-Sex hin zu weniger Vorsichtsmaßnahmen verschiebt – was ja eine Katasptrophe wäre. Losgelöst von unserer Studie haben Betroffene nach sexuellen Kontakten, zum Beispiel beim Reißen eines Kondoms, kaum die Chance, so schnell wie nötig an die Medikamente zu kommen. Diese Kontakte finden nachts statt, da haben Praxen, Ambulanzen und Apotheken meist zu. Dies war einer der Gründe für unser Studiendesign. Wir haben in Partnerschaften, wo einer HIV-positiv, einer HIV-negativ ist, dem negativen Partner die Notfallmedikation ausgehändigt.
Kann man erwarten, daß deutsche Ärzte auf dem Stand der neuesten Entwicklungen im Bereich der HIV-Medizin sind?
Der Bereich ist hochspeziell und ändert sich schnell. Wer ein typisches HIV-negativ Patientenkollektiv behandelt, für den ist das ziemlich schwer auf dem laufenden zu bleiben. Ich glaube, bei Fragen wäre es wirklich besser, mit einer Schwerpunktklinik zusammenzuarbeiten.
Aber muß man als Arzt – gegenüber einer vergewaltigten Frau beispielsweise – nicht gehandelt haben? Nehmen wir an, der Vergewaltiger wird nach drei Tagen geschnappt – und es stellt sich gegen jede statistische Wahrscheinlichkeit heraus, daß er doch HIV-positiv war.
Erstens, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß der nach drei Tagen gefangen wird? Zweitens: Man darf gegen den Willen einer Person gar keinen HIV-Test durchführen. Hier ist vieles abzuwägen.
Die Eltern der Betroffenen hatten Probleme, die Medikamente zu bekommen. Sie haben geäußert, daß die hohen Kosten von rund 3.000 Mark der Grund sein könnten. Wer bezahlt eigentlich die Prophylaxe?
Das ist ein heißes Eisen. Die Frage läßt sich nicht eindeutig beantworten: Auf der einen Seite gibt es die veröffentlichten Empfehlungen der deutsch-österreichischen Aids-Gesellschaften, die eindeutig sagen, daß die Prophylaxe auch nach sexuellen Kontakten verschrieben werden kann – zu Lasten der Krankenkassen. Diese Empfehlungen werden von allen namhaften infektologischen Gesellschaften mitgetragen. Auf der anderen Seite sagen die Kassen, daß dies keine Leistung sei, die zu ihren Lasten erfolgen darf. Hier ist dringend eine Klärung erforderlich.
Fragen: Eva Rhode
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