: Dann heult doch!
Was tun, wenn die Glückshormone ausbleiben? Im Thalia feiert Hauptmanns „Einsame Menschen“ Premiere – Weinerlichkeit zwischen Biedermeier-Villa und WG-Zimmer ■ Von Joachim Dicks
Das bürgerliche Glück hat nichts Jenseitiges, es ist ganz und gar von dieser Welt. Familie, das eigene Heim, eine geregelte Arbeit und ein ebenso geregeltes Einkommen: Der Spießer orientiert sich am Machbaren, sein oberstes Gesetz lautet: Jedes Problem hat eine Lösung! Was aber tun, wenn die Glückshormone ausbleiben, obwohl es aus dem Kinderzimmer lauthals krakeelt und im Garten die roten Rosen lieblich blühn?
Vor dieser lebenserschütternden Frage steht auch der Privatgelehrte Johannes Vockerath. Noch sind die Bücherkisten nicht ausgepackt, das Klavier und die Möbel in Folie gehüllt, und von der Decke bröselt der Stuck, da quält der Jung-Wissenschaftler mit Künstlerallüren auch schon sich und seine Familie mit Selbstzweifeln und verbalen Unzufriedenheitsergüssen.
Seine Frau Käthe, als Milchspender- und Windelwechslerin auch nicht gerade ausgefüllt (“Ich bin schon 22. Es geht abwärts.“), ist ihm zu ungebildet. Auch seine frömmelnden Eltern verweigern die Auseinandersetzung mit Darwin, Haeckel und Nietzsche. Statt dessen versorgen sie ihn lieber mit handfesten Lebensweisheiten: „Es lebt der Mensch nicht gern allein – es müssen immer zweie sein!“ Und dem Malerfreund Braun ist er mit Kleinfamilie, Rückzug aufs Land und seinen spleenigen Studien (“physio-philo-psycho-kritisch“) ein Verräter an den Idealen der Jugend – welche auch immer gemeint sein mögen.
In dieses brüchige Sozialgebilde bricht die weltgewandte russische Studentin Anna Mahr wie ein Lichtstrahl ein, der alle unerfüllten Sehnsüchte deutlich zutage treten läßt. Die emanzipierte Frau bietet die Aussicht auf einen neuen, höheren Zustand der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau. Mit diesem Pathos hat sich Gerhart Hauptmann das wohl gedacht, als er sein Fin-de-siècle-Schauspiel Einsame Menschen vor über 100 Jahren geschrieben hat. Und Einsame Menschen heute?
Henrike Engel erzeugt mit ihrem Bühnenbild eine Atmosphäre zwischen Aufbruch- und Abrißstimmung, zwischen Biedermeier-Villa und WG-Zimmer, einen unbequemen Raum, in dem niemand sich wirklich einrichten möchte. Stephan Schad spielt Johannes Vockerath facettenlos als pubertierendes Riesenbaby, dem Wissenschaftsdiskurse ebenso den Kopf verwirren wie die erotischen Annäherungsversuche einer emanzipierten Frau. Auch Angelika Richter kann in der Rolle der Anna Mahr nicht überzeugen. Sie ist weder Geist-Genie noch Femme fatale, warum also eine Gefahr für die bürgerliche Bequemlichkeit? Zumal Käthe alias Sylvia Schwarz mehr Herz und Witz als sie versprüht. Was Einsamkeit, was ein einsamer Mensch ist – bei ihr kann man es wenigstens ahnen.
Bemerkenswert, daß in der Inszenierung von Karin Henkel nur der Lebensentwurf der Eltern Vockerath (Siegfried W. Kernen und Angelika Thomas) mit ihren überkommenen religiösen Ansichten und hausbackenen Lebensrezepten übrigbleibt. Eine stille Hom-mage an die Institution der Ehe?
Karin Henkel erweist sich mit derInszenierung als „Halbentschlossene“. Dem larmoyanten Tonfall des frühen Hauptmann-Stückes treu ergeben – immer wieder möchte man auf die Bühne „Don't cry, work!“ rufen –, begleitet sie die Umbauten mit Musikfetzen aus Klassik, Jazz und Punk. Was aber haben die Sex Pistols mit dem Pseudo-Protestler Johannes Vockerath gemeinsam? Zwischendurch sorgt die Hausangestellte (Katharina Matz) mit unvermitteltem Kinderwagen-Geschiebe und Vogelpflege für unmotivierte Slapstick-Einlagen. Auch der dramaturgische Kniff, daß sich Hannes, nachdem sich Anna verabschiedet hat, nicht umbringt, sondern als begossener Pudel abtritt, erschließt sich nicht aus der Geschichte. Das ist nicht einfallsreich, kaum witzig und wirkt völlig beliebig. Anything goes? Von wegen.
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