: Die Stadt der zwei Ansichten und Realitäten
■ Stadtpolitischer Kongreß der SPD zu „Berlin 2010“. Während die Politiker die Hauptstadt hochleben lassen, sehen Experten mehr Defizite als Erfolge. Fazit: Die Stadt ist in der Krise
Vor über 1.000 Zuhörern auf dem Stadtpolitischen Kongreß der SPD „Berlin 2010“ am Wochenende lobte der sichtlich stolze Stadtentwicklungssenator und SPD-Landeschef Peter Strieder die Politik der letzten Jahre: Eine grundlegende Modernisierung der Stadt sei gelungen – vom Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, der Investition in ein hochmodernes Glasfasernetz bis zur Schaffung von über 100.000 neuen Wohnungen.
Auch sein Staatssekretär Hans Stimmann redete von Erfolgen: Berlin habe europaweit die perfekteste Landesplanung, die Innenstadt werde ausgebaut, der Prozeß der Umlandzersiedlung gehe nicht chaotoisch, sondern geplant vor sich. Defizite seien allenfalls auf falsche Wachstumserwartungen zu Beginn der 90er Jahre zurückzuführen sowie auf die mangelhafte Umsetzung der Planung. Auf den unterschiedlichen Podien zu Themen wie Nachhaltigkeit, Arbeit, Migration, Kultur und soziale Stadtentwicklung wurden die Politiker von den Fachleuten jedoch unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Berlin, in Sachen Ökonomie das Schlußlicht unter den Bundesländern, stecke in einer schweren wirtschaftlichen Krise, erinnerte der Soziologe Hartmut Häußermann.
Die Stadt verliere weiter Einwohner, ein Riß gehe durch die Stadtgesellschaft. Ein Quartiersmanagement für „Problemviertel“, wie von der SPD favorisiert, mache nur dann Sinn, wenn alle Bereiche verknüpft und die Betroffenen tatsächlich beteiligt würden. Es gehe nicht nur um Notstandspolitik, sondern um die Verbesserung der Lebensqualität, vor allem der Infrastruktur; städtische Schulen seien dabei ein ganz wichtiges Thema.
Verwiesen wurde auch auf die wachsende Armut nicht durch Zuwanderung, sondern Verarmung der vorhandenen Bevölkerung. Von den Schwierigkeiten konkreter Beschäftigungspolitik in den Gebieten war ebenso die Rede wie vom Modellprojekt kiezorientierter Kriminalitätsprävention. Zu oft würde Präventionsarbeit gegenüber der Ordnungspolitik einfach unterschätzt.
Einig waren sich die Experten in der Notwendigkeit, die Betroffenen zu stärken („Empowerment“) statt zu betreuen. Als Hausaufgabe für die Berliner SPD gab Häußermann auch die programmatische Frage mit, was sozialdemokratische Stadtentwicklung in Zukunft heiße angesichts eines privatisierten Wohnungs- und Arbeitsmarktes. Beide Bereiche seien in den letzten Jahren nur getrennt behandelt worden.
Berlin in der Krise: Die Mieten zu hoch, der Schlachtruf „Urbanität gleich Dichte“ einfach Quatsch (so Städtebauprofessor Thomas Sieverts) und kein Geld in der Kasse: „No Money, Honey“, beschrieb es bündig eine Diskutantin. Viel zu tun also für die Berliner SPD. Thomas Sieverts mahnte an ihre Adresse an, das Motto des Kongresses „Berlin 2010“ endlich ernst zu nehmen „denn davon hat man heute nicht viel gemerkt“.
Ganz so schlimm wollte es Strieder nicht sehen. Dennoch sagte auch er, daß es nicht mehr um Stellvertreterpolitik oder Baupolitik gehen könne, sondern um städtische Gesellschaftspolitik wenn auch von konkreten Konzepten kaum etwas zu hören war. Und vor der Tür sang ein Juso: Sag mir wo du stehst. Schaffelder/Steglich
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