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Die Verteidigung der Freiheit

■ Auf dem Weg zum Bürgerstaat (7): Die Neudefinition des Staatsvolkes führt zur Rückbesinnung auf republikanische Werte

Trotz aller Widerstände, das neue Staatsbürgerrecht wird kommen. Und das ist gut so. Denn damit wird ein politisch wie moralisch unhaltbarer Zustand beendet. Was wird sich ändern? So paradox es klingt: nicht viel und doch alles.

In den soziokulturellen Randbezirken unserer Gesellschaft, wo Integrationsbemühungen nicht greifen oder gar nicht gewünscht werden, wird es weiterhin das Gefühl von Fremdheit, gewalttätige Konflikte zwischen Ethnien, Identitätszweifel und Verteilungskämpfe geben. Herkunft, Traditionen und Kultur werden auch mit einem deutschen Paß nicht an Bedeutung verlieren. Wer aber die alten Bindungen hinter sich lassen will, der hat künftig mehr Chancen, selbständig seinen eigens gewählten Weg zu gehen.

Allerdings ist die Integration mehr als ein Angebot. Sie ist der Imperativ der angestammten Mehrheitskultur, und daher gesellen sich neben die garantierten individuellen Freiheiten und staatsbürgerlichen Rechte auch Pflichten: die republikanische Verfassung und ihre Institutionen anzuerkennen und die deutsche Sprache zu erlernen. Viele werden fragen, was ein formelles Verfassungsbekenntnis für Einbürgerungswillige soll, schließlich käme doch niemand auf die Idee, das gleiche für alle Bundesbürger zu verlangen. Und liege das gleiche Paradox nicht auch bei der zweiten Forderung vor, der Aneignung der deutschen Sprache, wo sich doch selbst bei der deutschen Bevölkerung nicht jeder verständlich ausdrücken könne?

Trotzdem sind diese Verpflichtungen keine Willkürakte, sondern notwendige Bedingungen angesichts der Tatsache, daß der liberale Verfassungsstaat seine Voraussetzungen nicht beliebig reproduzieren kann. Daher müssen Kenntnis der Verfassung und Treue zu dieser selbst in der Gesellschaft verankert sein, will der Verfassungsstaat nicht zu einem bloß institutionellen Gerüst verkommen.

Dies führt uns zu der unumkehrbaren Veränderung: Die Identität von Staatsvolk und deutscher Nation wird es nicht mehr geben. Die republikanische Gleichheit, die das geplante Staatsangehörigkeitsrecht schafft, weist einerseits auf die Allgemeingültigkeit der Prinzipien liberaler Demokratien, andererseits fordert sie die soziomoralischen Grundlagen und politisch-kulturellen Werte der Gesellschaft verstärkt heraus. Ganz neu ist diese Herausforderung nicht. Von Anbeginn der Volksherrschaft hat man sich Gedanken über die Risiken der Freiheit gemacht. Aber in der letzten Dekade hat die Rede über die Bedeutung republikanischer Tugenden angesichts von Politikverdrossenheit und Wertezerfall wieder an Gewicht gewonnen.

Der Rückbezug auf individuelle Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, politische Teilhabe und Tugendhaftigkeit geschieht in Deutschland aber nur in Sonntagsreden. Das mag damit zusammenhängen, daß die Westdeutschen sich die Freiheit nicht erkämpft, sondern geschenkt bekommen haben. Die Ostdeutschen haben sie sich letztlich erstritten. Trotzdem sind die republikanischen Defizite dort unübersehbar. Jahrzehntelange ideologische Prägungen und enttäuschte zu hohe Erwartungen mochten bislang nichts anderes zulassen. Die öffentliche Distanziertheit gegenüber den republikanischen Errungenschaften lag auch in einer jahrzehntelangen Polarisierung begründet, die auf der einen Seite die Nation statt die Republik propagierte, die „deutsche Schicksalsgemeinschaft“ betonte statt die Gleichheit der freien Bürger. Auf der anderen Seite gaben sich ganze Generationen einem nationalen Selbsthaß hin, dessen letzter grotesker Ausfluß die deutsche Selbstauflösung durch ungebremste Einwanderung sein soll.

Ein weiterer Grund für die faktische „Verdrängung der Republik“ liegt sicher auch in der bloßen Zweckbindung unserer Freiheit an materielle Wohlstandsmehrung. Die Reduzierung Deutschlands auf einen Wirtschaftsstandort schafft eine geistige und emotionale Leere, die selbst mit der Gesamtheit aller Konsumgüter nicht aufzufüllen ist. Gewiß, die Sinnstiftung gehört nicht zu den Aufgaben der Politik, die Sinnvernichtung aber auch nicht.

Die Neudefinition unseres Staatsvolkes führt zwangsläufig zur Rückbesinnung auf die republikanischen Werte und die Erneuerung und Stärkung gesellschaftlicher Kraft. Der freiheitliche Raum zwischen den Parolen „Deutschland verrecke“ und „Ausländer raus“ muß jeden Tag aufs neue verteidigt werden. Das kann nicht allein den staatlichen Institutionen überlassen werden. Um das Bewußtsein der Bürger als Citoyen zu stärken, wäre zu überlegen, ob der Erwerb der vollen politischen Rechte nicht an einen Verfassungseid für alle Staatsbürger mit Vollendung des 18. Lebensjahrs gekoppelt werden soll.

Die bestehenden und kommenden Konflikte (ob religiöser, sozialer oder kultureller Art) werden ein hohes Maß an sozialer Disziplin verlangen, zumal sich der Staat in vielen Dingen neutral verhalten muß. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen, grundlegende bürgerliche Tugenden wie Toleranz, Zivilcourage, Gewaltlosigkeit, Verantwortungsgefühl, Rücksichtnahme und Gewissenhaftigkeit zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Der fortschreitende Verlust an sozialer Disziplin könnte durch die Rückgabe von Verantwortung, die an staatliche Stellen delegiert war, in der Gesellschaft neues Engagement freisetzen. Allerdings bleibt die staatliche Entschiedenheit in strafrechtlichen Angelegenheiten zwingend.

Von der Politik muß man erwarten, daß sie ihren Glauben, entweder der Markt oder der Staat könnten unser Gemeinwohl regeln, aufgibt. Einzig bei den Grünen gab es in der Vergangenheit Ansätze, gesellschaftliche Selbstorganisation in Form von Bürgerinitiativen ohne Vorbehalt zu unterstützen. So wichtig es ist, daß die Grünen ihren Frieden mit den staatlichen Institutionen gemacht haben, so wichtig ist es, das Selbstbewußtsein unserer Gesellschaft, welches sich zu einem großen und nachhaltigen Teil aus der erfolgreichen Arbeit von Bürgerbewegungen und kirchlichen Gruppen speist, zu fördern.

Die Auflösung des Nationalstaates durch die europäische Integration und die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts lenken unseren Blick auf die Grundfesten unserer Ordnung. Die Bundesrepublik könnte tatsächlich eine andere, eine bessere sein – wenn sie denn den Versuch unternähme, das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft sowie zwischen Liberalismus und Republikanismus in ein Gleichgewicht zu bringen. Bernd Rheinberg

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