: Arbeitslose dürfen vorsorgen
Die gesetzliche Altersrente reicht nicht aus, urteilt das Bundessozialgericht. Auch Erwerbslose können Kapital anhäufen – ohne Anrechnung bei der Arbeitslosenhilfe ■ Von Annette Rogalla
Berlin (taz/AFP) – Wer ein Vermögen angespart hat, um seinen Lebensstandard im Alter zu sichern, muß das Geld nicht unbedingt antasten, wenn er Arbeitslosenhilfe beantragen will. Dies hat das Bundessozialgericht in Kassel (BSG) in einem Grundsatzurteil festgelegt. Die Richter und Richterinnen des 7. Senats haben diese Entscheidung im Oktober vorigen Jahres getroffen, sie wurde gestern bekannt. (Az.:B 7AL 118/97)
Erstmals formuliert der Senat auch, wie eine „angemessene Alterssicherung“ berechnet werden soll. Die gesetzliche Rente sichere den Lebensstandard nur zu etwa 70 Prozent, heißt es in dem Urteil. Damit macht sich der 7. Senat die Auffassung der Rentenversicherer zu eigen. Um den Lebensstandard im Alter nicht herunterzuschrauben, müsse es jedem Versicherten möglich sein, die restlichen 30 Prozent durch private Vorsorge aufzustocken, sagte eine Richterin des Senats zur taz. Verschont bleibe demnach ein Vermögen, das, wenn es während der Rentenjahre verzinst werde, eine Alterssicherung von drei Siebteln der gesetzlichen Rente ergebe. Übersteige die Selbstvorsorge diese Grenze, sei es einem Arbeitslosen zumutbar, einen Teil seines Vermögens für seinen täglichen Lebensunterhalt aufzubrauchen, bevor er Arbeitslosenhilfe beantragen könne.
1993 habe die durchschnittliche Standardrente bei 2.000 Mark monatlich gelegen. Nach der neuen Berechnung müsse es jedem möglich sein, Kapital zu bilden, das ihm 800 Mark Rente zusätzlich sichere, sagte die Richterin. Bei Ehepaaren liege die Grenze bei 1.600 Mark im Monat. Betriebsrenten bleiben bei der Aufstockung der gesetzlichen Rente außer Betracht. Höhere Vermögen müßten in Ausnahmefällen verschont bleiben, wenn etwa nach Jahren der Selbständigkeit keine gesetzliche Standardrente zu erwarten sei.
Der Senat legte bei seiner Entscheidung eine „gegriffene Größe“ der Standardrente zugrunde. „Das ist gefährlich“, meinte die Richterin. „Da sich der Gesetzgeber aber darüber ausschweigt, in welchem Umfang die gesetzliche Rente den Lebensstandard absichert, mußten wir eine Grundlage suchen. Möglicherweise sind aber die 70 Prozent zu hoch gegriffen.“ Nun hofft das BSG, daß die Regierung sich dazu verhalten werde, nachdem das Urteil öffentlich geworden ist.
Das Urteil wird den Arbeitsämtern noch Kopfzerbrechen bereiten. Die Bundesanstalt für Arbeit erklärte, es sei noch offen, wie man den Spruch in der Praxis umsetzen könne. So sei es fraglich, welche Verzinsung des Vermögens in die Berechnung einfließen soll. Schwierig wird auch die Prognose, für wie viele Jahre die private Vorsorge reichen soll. Die Rente wird bis zum Ende des Lebens gezahlt. Die Kassler Richter legen bei der Berechnung der Eigenvorsorge allerdings nur die durchschnittliche statistische Lebenserwartung zugrunde. Daß dies individuelle Ungleichheiten birgt, nehmen sie hin, da die Arbeitsämter „Massen von Anträgen bearbeiten müssen“, hieß es.
Geklagt hatte ein Arbeitsloser, der 88.000 Mark in Wertpapieren angelegt hatte. Das Arbeitsamt wollte ihm einen Freibetrag von 8.000 Mark für die private Altersvorsorge zugestehen. Vom restlichen Geld sollte er 66 Wochen seiner Arbeitslosenzeit finanzieren. Das BSG kassierte das Urteil.
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