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Der Wiener „Zettelpoet“

■ Ende März tourt er endlich auch durch deutsche Fußgeherzonen

„Wer lange genug angepaßt wird, dem paßt alles“ steht auf den kleinen Papierfetzen. Oder zum Beispiel: „Die, die nur wissen, was man ihnen sagt, sind auch die, die nicht wissen, was man ihnen verschweigt.“ Solche Denkzettel verpaßt Helmut Seethaler, ein 46jähriger Wiener, seinen Mitmenschen. Einige wollen ihn deshalb sogar hinter Gitter bringen.

Eigentlich sei seine Kunst „harmlos“, meint der „weltweit einzige Zetteldichter“: „Kritisch ist sie schon. Aber ich greife nie jemanden persönlich an.“ Er schreibe Gedanken auf, die ihm in der U-Bahn in den Kopf kommen. Bewußt wähle er dabei einfache Worte: „Ich will gerade die Nichtleser erreichen.“ Vermutlich würde der Poet übersehen werden – wenn nicht die Art seiner Lyrik-Verbreitung etwas ungewöhnlich wäre: Erst tippt er ein Blatt mit Gedichten voll. Dann kopiert er es ein paar tausendmal, schneidet die Gedichte aus und heftet sie mit Klebeband an Bäume, Haltestellenwände oder andere öffentliche Flächen. Dazu hängt er das Schild: „Literatur zum Pflücken“. Der Einladung zur Selbstbedienung folgen vor allem Frauen: „Manche pflücken, wenn sie zur Arbeit gehen, ein Gedicht und sprechen am Abend mit mir darüber, wenn sie auf ihre Züge warten.“ Seethaler sieht es gern, wenn seine Leserinnen einen kleinen Geldschein zükken und eine Art Gedicht-Abo bestellen. Schließlich lebt er von seinen rund 2.000 Fans, die regelmäßig Poesie ordern. Umsatz pro Monat: „mal mehr, mal weniger als 1.000 Mark“.

Weniger begeistert sind die Verkehrsbetriebe. Seit Jahren versuchen die „Wiener Linien“ in einem erbitterten Kleinkrieg, Seethalers Haupttatort, die U-Bahn-Station unter dem Westbahnhof, gedichtefrei zu halten. Dabei sei das „eine ideale Stelle: Hektik, brutaler Alltag. Hier bringt mich nichts mehr weg!“ sagt Seethaler und beteuert: „Nach meinen Aktionen beseitige ich vorsichtig das Klebeband mit allen noch daran befindlichen Gedichten.“ Trotzdem reagieren die Behörden mit Anzeigen wegen „unerlaubten Plakatierens“ oder „vermeidbarer Luftraumverschmutzung“ – und lassen die Zettel herunterreißen.

„Der Rekord bisher waren 34 blaue Amtsbriefe an einem Tag“, berichtet Seethaler. „Bei Strafverfügungen verweigere ich die Annahme. Dann kommen sie am nächsten Tag per Einschreiben. Das nehm ich auch nicht an. Dann werden sie gerichtlich eingeklagt. An manchen Tagen sind mehrere Beamte nur mit mir beschäftigt, schreiben Dutzende Strafen, gegen die ich Einspruch erhebe. Ich bin genauso fleißig wie die. So bleiben wir alle in Schwung.“ „Wenns genehmigt wird, hörst auf“, sagt Seethalers Frau, „s wär ja fad.“ So gesehen ist es ein Glück, daß sich die Wiener Ämter über das Phänomen „Pflückliteratur“ nicht einigen können: Einige sind von Sympathisanten unterwandert, bei denen Seethaler gratis kopieren kann, andere haben für ihn ein eigenes Strafanzeigenformular gedruckt, in das nur noch das Datum und die Anzahl der verklebten Säulen einzutragen sind. Über 1.200 Verurteilungen in erster Instanz wurden bisher von der zweiten wieder aufgehoben. Als letztes Jahr Österreichs oberster Gerichthof die Zettelei zur „anerkannten Kunstform“ erklärte, war der Poet an manchen Tagen sogar mit Polizeischutz unterwegs.

Immerhin ist es nun den „Wiener Linien“ gelungen, den Dichter wegen Beleidigung verurteilen zu lassen. Er hatte Kontrolleure, die seine Gedichte herunterrissen als „amtliche Kunstvandalen“, „Oberkasperl'' und „Vizekasperl“ bezeichnet. Da Seethaler nur drei Töchter und „drei voll überzogene Konten“ besitzt, wird die Strafe von Anhängern bezahlt. Zur Erholung fährt der Dichter ins Ausland. Schon in den letzten Jahren hatte er in Köln, Berlin und Stuttgart „besonders brauchbare Fußgeherzonen“ gefunden: „Kein Polizist verhindert mich, kein grantiger Wiener stört mich dort.“ Diesen März wird er die Leipziger Buchmesse (24. – 28. 3) verkleben, anschließend eine kleine Tournee durch Deutschland starten. Danach soll es mit frischer Kraft zurück zum Wiener Westbahnhof gehen: „Ich werde noch 50 Jahre lang Zettel kleben!“ Martin Ebner

Von Helmut Seethaler sind erhältlich: 1. „Das Pflückbuch“. Verlag Der Apfel, Wien ab 1995 (eine Rarität: Jedes Stück wird einzeln zusammengeklebt und daher nur an hartnäckige Käufer ausgeliefert), ISBN 3-85450-103-X / 36 DM 2. Postkartenbuch „Zettelgedichte“ (illustriert von Kolibri) bei: Werner Blattmann, Boddinstr. 15, 12053 Berlin Außerdem vertreibt die Österreichische Postbank Zahlscheine mit Zettelgedichten auf der Rückseite.

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