■ Rußland: Die Affäre Skuratow zeigt Jelzins Schwäche: Die Gunst der Stunde
Die Wiederauferstehung des teilentlassenen russischen Generalstaatsanwalts Juri Skuratow am Mittwoch bedeutet: Rußlands Präsident, Boris Jelzin, dirigiert niemanden mehr im Lande. Weder die Legislative noch die Vertikale in den Regionen. Mit der Macht über die Senatoren hat der Präsident auch die Macht über die Obersten Richter verloren, die per Verfassung vom Föderationsrat bestätigt werden.
Der auf seine verfassungsmäßige Unabhängigkeit pochende Generalstaatsanwalt hat sich vorgestern dem Volke als erster Verteidiger des Gesetzes gegen eine korrupte Ordnung profiliert. Weshalb haben die Senatoren nicht – wie am Vortag beschlossen – gegen ihn votiert? Ein Grund ist die Angst eines jeden einzelnen von ihnen: Wenn ich gegen Skuratow stimme, halten mich meine WählerInnen für korrupt.
Denn das russische Volk liebt die von den Machthabern zu Unrecht Zurückgesetzten. Wenn Skuratow heute geduckt wird, so zieht die russische Öffentlichkeit daraus lediglich einen Schluß: Dieser Mann nimmt den Kampf gegen die Korruption ernst.
In seiner Rede vor dem Föderationsrat hat Skuratow darauf hingewiesen, daß der Präsident von verfassungsfeindlichen Kräften umgeben sei. Freilich hat er sich geweigert bei seinen weitreichenden Andeutungen, diese Kräfte beim Namen zu nennen. Dank der Gunst der Minute hält Skuratow heute die Karten in der Hand. Trotzdem will er sich sein Verhältnis mit Jelzin nicht verderben – auch wenn es Präsidialamtsmitarbeiter waren, die ihn mit einer Kassette über seine intimen Abenteuer zum Rücktritt zwangen. Um eine Audienz bei Jelzin, die Skuratow gestern gewährt wurde, hatte er seit Wochen gekämpft.
Wenn man den Präsidenten einmal ausnimmt, so sind mit dem Abstimmungsergebnis um Skuratow gegenwärtig alle politischen Lager in Moskau zufrieden. Ganz ähnlich verhielt es sich Mitte der 80er Jahre, als der Moskauer Parteichef der KPdSU, Jelzin, es sich nicht gefallen ließ, daß ihn Generalsekretär Gorbatschow zum Rücktritt zwang. Die ganze Hauptstadt- Gesellschaft zeigte sich begeistert, als das Plenum des 19. Parteitags 1988 Jelzin das Wort erteilte – Gorbatschow zum Trotz. Damals begann der heutige Präsident Rußlands seinen langen Marsch in die Politik. Wenn Jelzins Sklerose ihm heute eine verbiesterte Attacke gegen Skuratow gestattet, bedroht dies seine eigene Identität – persönlich und politisch. Barbara Kerneck
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