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Aus Freude am Basteln

Traditionalisten und Feuerwerker: In Darmstadt wurde der Leonce-und-Lena-Preis für Lyrik vergeben  ■ Von Michael Braun

Die deutsche Lyrik, so zeterte jüngst einer ihrer prominenten Matadoren, der Literatur-Kosmopolit Raoul Schrott, habe „ihre Mitte längst verloren“. Anstatt von den Dingen zu reden, verzehre sie sich in enervierenden Sprachexerzitien, betreibe Nabelschau und ersticke zuletzt an der „politischen, philosophischen und didaktischen Bürde“, die sie sich aufgehalst habe. Den sinnfälligen Praxistest zur Verifizierung solcher Vorwürfe hätte Schrott nun in Darmstadt durchführen können, wo am Wochenende zum elften Mal seit 1979 ein gutes Dutzend Jungdichter zum Wettlesen um den Leonce- und-Lena-Preis antraten.

Schrott, der Preisträger von 1995, saß diesmal in der prominent besetzten Jury, wo er mehr als einmal Gelegenheit gehabt hätte, mit seinem kritischen Sezierbesteck so manchen anämischen Text in seine dürftigen Bestandteile zu zerlegen. Aber, welch Wunder, der Pamphletist wider die deutsche Lyrik zeigte nun keinerlei Neigung mehr, über den „Verlust der Mitte“ zu lamentieren, sondern beschränkte sich auf kollegialen Zuspruch und freundliche Ermunterungen. Im Fall des späteren Preisträgers, des gerade mal 24jährigen Schweizers Raphael Urweider, bekannte Schrott gar, daß er neidisch sei, diese Gedichte nicht selbst geschrieben zu haben.

Ganz so katastrophal und lamentabel, wie das in den eingängigen Breitwand-Pamphleten von Gernhardt bis Schrott so hingepinselt wird, ist die Situation der Lyrik eben nicht, im Gegenteil. Wenn sich diesmal die gesamte Jury vor dem „durchgehend hohen Niveau“ (W. Schoeller) der dargebotenen Texte verneigte, so klang darin mehr als nur eine Höflichkeitsfloskel mit an. Waren in Darmstadt früher kollektive ästhetische Schwächeanfälle an der Tagesordnung gewesen, die einem jedes Vertrauen in die Gattung austrieben, so bewegte sich in diesem Jahr das Gros der Texte in einer tolerierbaren qualitativen Mittellage. Zudem verblüfften einige Dichter mit einer Formsicherheit und handwerklichen Souveränität, daß einem dieses altmeisterliche Gebaren fast schon wieder verdächtig vorkam.

Die Texte der 13 Kandidaten dokumentierten ganz deutlich, daß am Ende der neunziger Jahre die Zeit der wilden Sprachzertrümmerungen und vokabulären Zerreißproben à la „Prenzlauer Berg Connection“ endgültig abgelaufen ist. Bis auf die nervös flackernden Bilder und rhythmisch zerstückten Realitätsstenogramme der bislang völlig unbekannten Anja Nioduschewski, in deren Gedichte sich ein dissoziiertes Ich durch eine künstliche Wirklichkeit aus Rausch, Erotik und männlichem Voyeurismus bewegt, fanden sich keinerlei Versuche, sich in einer modern fragmentierten Sprache an die „nächtlichen Interferenzen“ (Nioduschewski) einer medial konditionierten Wahrnehmung heranzuschreiben. Für dieses Unternehmen wurde ihr der 1. Förderpreis zuerkannt.

Statt dessen tauchten in Darmstadt völlig überraschend akribische lyrische Handwerker auf, die sich in imponierender Bastelfertigkeit an den steilsten Gipfeln deutscher Verskunst versuchten. Der in Moskau geborene Alexander Nitzberg, von Peter Rühmkorf vor einiger Zeit zum hoffnungsvollsten „Musenjüngling“ unserer Tage nobilitiert, präsentierte sich als Traditionalist der alten Schule, als er in listigem Formenspiel Ruinen-Sonette vortrug, die den Verlust des antiken Mythos in ihre formale Gestalt übersetzten. Sein klassizistisches Herummeißeln an diesem Marmor- und Mythen-Prunk entpuppte sich aber als eigentümlich leere Artistik, die ohne jede Reflexion auf die Sprache der Gegenwart einfach nur die ehrwürdige Sonett-Form mit dem ganzen Antike-Brimborium repetierte.

Traditionalistisch überboten wurde Nitzberg nur durch den Münsteraner Nicolai Kobus (2. Förderpreis), der gleich einen ganzen Sonett-Kranz inklusive „Meister-Sonett“ flocht und darin das komplette Themen-Repertoire von Kunst und Leben, Eros und Tod, Sein und Nichts, „müden Engeln“ und „egomaner Vanitas“ unterbrachte. Das war ein durchaus schwergewichtiges Exempel in der „Kunst des Welt-Drechselns“ (Juror Iso Camartin) – zugleich aber eine schauderhafte Vorführung von kaltem Kunsthandwerk, von Motiv-Recycling auf hohem Niveau ohne jede Spur eines eigenen Gedankens.

In Reminiszenzen-Laune präsentierte sich auch der Sieger des Wettbewerbs, Raphael Urweider aus Bern, der einen heiteren Gegen-Zyklus zu Enzensbergers „Balladen aus der Geschichte des Fortschritts“ vortrug. Hatte einst Enzensberger in seinem „Mausoleum“ (1975) die Heroen des Geistes von Macchiavelli bis zum Computer-Erfinder Alan Turing in ihrer tragischen Dimension porträtiert, so werden sie in Urweiders moritatenhaften Zweizeilern in ihrer Alltagskomik und Lächerlichkeit vorgeführt.

Mit viel Witz und Esprit spaziert Urweider durch die Alltagsnarreteien der Geistesgrößen, läßt Papageien durch Galileis Träume ziehen, einen Buntspecht in der Leitung des Telefon-Erfinders Graham Bell sitzen oder einen Otto- Motor lautpoetisch rumoren: „nikolaus august otto hat nur ohren für den motor/ er ortet keinen daimler vor dem tor die produktion/ in massen ist das a und o des daimlers er wittert die/dicke luft durch die ritzen im holz ottos motor/ stottert zwischen eins und zwei nachmittags ottos/ herz setzt für zwei schläge aus der motor rumort...“

Nach all den emphatischen Rekonstruktionen antiker, klassizistischer und auch – etwa beim 3. Förderpreisträger Henning Ahrens – naturlyrischer Standards, boten Urweiders vergnügliche Feuerwerkereien die dringend gebotene Leichtigkeit. Auch wenn solche Kabinettstückchen, wie Juror Hubert Winkels leise einwandte, nur ein „Minutenvergnügen“ bieten – dann leisten sie innerhalb ihrer Gattung, die oft an bleischwerer Melancholie laboriert, schon sehr viel.

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