Die Neuerfindung der Klarinette

■ Nach der Rückkehr von einer Spanientournee gab die Kammerphilharmonie ein exzellentes Konzert in der Glocke

Fast kann man ja froh sein, daß nicht jedes Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen allererste Sahne ist, dann könnte man es nämlich gar nicht so richtig genießen. So wie jetzt das Konzert unter der Leitung von Trevor Pinnock mit der Solistin Sabine Meyer. Das Konzert war der Abschluß einer Spanientournee, und der anhaltende Beifall, mit der die HeimkehrerInnen in der bis aufs Podium besetzten Glocke begrüßt wurden, sprach für sich: Diese Stadt will dieses Orchester. Pinnock ist seit Jahren – sozusagen in der Enkelgeneration – einer der Geheimtips der historischen Aufführungspraxis, bewies aber in diesem Konzert, daß er keine Berührungsängste mit spätromantischer und neuerer Musik hat. Im Gegenteil: Die Wiedergabe des „Concerto in Re“ von Igor Strawinsky kam mit einer wunderbaren Eleganz, klangfarblichen Süffigkeit und rhythmischen Flexibilität daher. Auch der ebenso berühmte wie nie zu hörende „Valse triste“ des von Theodor W. Adorno so beschimpften finnischen Komponisten Jean Sibelius – „harmloses Salonstück“ – überzeugte als eine große, psychologisch fundierte Komposition (es geht um einen Todestraum). Pinnock schafft es, mit dem glänzend aufgelegten Orchester, Pianissimostrukturen aus dem Nichts herauszuholen, so daß man den Atem anhielt.

Dies allerdings ganz besonders in den zwei klassischen Stücken des Abends: dem Klarinettenkonzert KV 622 von Wolfgang Amadeus Mozart und der Londoner Sinfonie Nr. 102 von Josef Haydn. Auch Stargäste wie Sabine Meyer haben noch einmal innerhalb ihres gewohnt perfekten Rahmens Sternstunden, und dies war so eine. Unbeschreiblich die Scharniere, bzw. Übergänge von Orchester zu Solo und umgekehrt: voller Einfühlung von Pinnock und voller Vorsicht und wirklich dialogischer Auffassung von Sabine Meyer. Die Klarinettistin legte die klangfarblichen und affektiven Möglichkeiten ihres Instrumentes, von denen Mozart so absolut begeistert war, auf eine Weise dar, als lernten wir das Instrument neu kennen. Von überirdischer Schönheit der zweite Satz, in dem sich Pinnock kaum zu bewegen wagte aus Furcht, er könne etwas zerstören – das müßte sich der immer etwas zu aufgeregte Daniel Harding einmal anschauen.

Für die Wiedergabe von Haydns später Sinfonie (1795) legte Pinnock fulminant die innovativen Elemente offen: Eine hochdramatische Durchführung, ein verrückt-polterndes Menuett, ein Adagio als Klangfarbenjuwel und ein Presto-Finale, dessen Synkopen die Musik schier auseinanderzureißen drohten und das am Schluß die HörerInnen regelrecht foppt, weil Haydn mit immer neuen Einfällen für unberechenbare Überraschungen sorgt. Jedenfalls sind Rhythmik, Harmonik und Formwitz in dieser Sinfonie – wie auch den anderen Londoner Sinfonien – derart ausgeprägt, daß man sich einmal mehr fragte, wie, warum und wo das unsäglich falsche Klischee vom „Papa Haydn“ entstand. Beifall ohne Ende. Ute Schalz-Laurenze