: Mit der Stimme von Marlene im Divenrausch
■ Verraucht, verlebt, verlogen – Tim Fischer in der Bar jeder Vernunft mit „Retour frisiert“
Tim Fischer gibt die Geisha auf mitteleuropäisch. Der Kimono steht ihm prächtig, die schulterlangen Haare sind wuchtig aufgeföhnt, die Lippen kußrot. Keine Begrüßung, wie es überhaupt keine überleitenden Worte in seinem neuen Programm (mit dem unerklärten Titel „Retour frisiert“) gibt. Tim Fischer geht gleich in die Vollen: „Berlin, dein Gesicht hat Eiterpickel.“ Mit seinem ersten Lied (am Piano Thomas Dörschel, an der Geige Hans Jehle) ist der Chansonnier schon gleich ganz unten. Gossensongs von Brecht bis Bielfeldt. Verrucht, verlebt, verlogen – Tim Fischer ist an diesem Abend vor allem Frau, macht auf versoffenes Vamp, betrogene Geliebte und abgetakelte Hure.
Steht vor seinem Mikrophon starr auf einem Fleck, wirft sich in Pose, zerzaust das Haar, reißt die Arme hoch und spitzt die Lippen. Senkt den Blick, um mit einem heftigen Augenaufschlag und flatternden Händen sich in eine neue Positur zu reißen. Mit seinen 25 Jahren ist Fischer dennoch schon ein alter erfahrener Hase in seinem Metier. Vielleicht schon zu erfahren. Denn während seine Stimme sich weiterentwickelt hat und von ihm souveräner und vielseitiger eingesetzt wird, ihr dunkles Timbre noch sanfter geworden ist, begnügt sich der Sänger mit dem Status quo und macht es sich leicht. Manchmal einfach zu leicht. Zu schrill und laut und zu deutlich.
Jeder Zeile etwa der bitterbösen Moritaten eines Kreislers gibt er eine Geste mit dazu, erklärt zu viel durch Äußerlichkeiten, als daß er die Lieder wirklich von innen heraus interpretiert. Er hat sich in der Tat schöne Stücke herausgesucht: nicht nur das scheinbar Unverzichtbare, also Brel und Brecht/ Weill, auch Barbara, Gerhard Rühm, Songs von The Nits wie von Elvis Costello passen tatsächlich in sein Repertoire wie auch zu seiner Stimme. Aber nur selten läßt er die Lieder wirklich an sich ran und stellt sich ihnen, ohne sich hinter dem schnellen, sicheren Effekt zu verschanzen.
Denn am wohlsten, so scheint es, fühlt sich Tim Fischer, wenn er ganz ins Transvestitische abgleiten darf. Dann badet er in den darstellerischen Klischees von Revue und Diventum, nimmt gar mehr und mehr in Stimme und körperlichem Ausdruck die Manier der späten Marlene Dietrich an, ohne all dies jedoch ironisch zu brechen oder auf ein festeres Fundament zu stellen. So zeigt er sein Handwerk, offenbart seine ungemeinen Möglichkeiten – und genügt sich letztlich doch nur damit, exzentrisch und extrem zu sein. Axel Schock
Bis 26. März in der Bar jeder Vernunft, Di.–So., 20.30 Uhr
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