■ Die Grünen im Dilemma zwischen Pazifismus und Realpolitik: Fragile Mittellage
In der öffentlichen Meinung gelten die Grünen immer noch als pazifistische Partei. Sie unterliegen den Langzeitwirkungen von Produkten, die wie der Schokoriegel Raider plötzlich Twix heißen und dennoch immer noch für Raider gehalten werden. Ähnlich ist es mit dem Signet der Grünen. Man wird eben seine Vergangenheit nicht so schnell los. Dabei hatte die Partei seit den 80er Jahren in einem mühsamen Prozeß vom Pazifismus der Ursprünge Abschied genommen. Der schlichte moralische Impetus, daß Kriege grausam sind, wich der Erkenntnis, daß Tatenlosigkeit ebenso grausam sein kann.
Spätestens seit Bosnien-Herzegowina wurden auf Parteitagen militärische Mittel zur Friedenssicherung im Rahmen der UNO mehrheitsfähig. Zwangsmaßnahmen wurden also akzeptiert. Das war der entscheidende Einbruch. Nur: Jene, die auf dem Weg zur Realpolitik die notwendigen Beschlüsse forcierten, verstanden es nicht, diese auch nach außen hin sichtbar zu machen. Sobald sie einen Erfolg verbucht hatten, hielten sie sich zurück, um das Gesamtgefüge der Partei nicht auseinderzubrechen. So blieb die angebliche Seele der Partei, ihr pazifistischer Kern, scheinbar unberührt. Man konnte sich weiter als Antikriegspartei gerieren, auch wenn jeder wußte, daß ein bißchen Militär ebensowenig möglich ist wie ein bißchen Frieden. Das Trugbild des Pazifismus – welcher Wähler interessiert sich schon für Parteitagsbeschlüsse – blieb erhalten und sicherte die Partei gegenüber der PDS ab. Nach Tagen des Schocks scheinen nun jene die Sprache wiederzugewinnen, die für den Pazifismus der 80er stehen. Doch tun sie das wirklich? Man muß genau hinsehen, um durch die Rhetorik der Empörung hindurch zum Kern vorzustoßen. Auch die sieben grünen Bundestagsabgeordneten, die einen sofortigen Stopp der Luftangriffe fordern, haben kriegerische Mittel per se nicht ausgeschlossen. Sie verurteilten die Nato-Aktion, weil sie ohne Mandatierung durch die UN erfolgt. Sie wissen, daß sie mit der Moral der Friedensbewegung der 80er keinen Rückhalt finden werden. Folglich suchen sie den Ausweg in der Debatte um den Völkerrechtsbruch. Die eigentliche Frage aber, wie weit Pazifismus verträglich ist mit einer Regierungsbeteiligung, beantworten auch sie nicht. So verharren die pazifistische Minderheit und die Realo-Mehrheit in ihren Positionen. Dies wird das Dilemma der Grünen wohl bleiben. Auch über den Krieg hinaus. Warum auch nicht? Schließlich haben sich die Grünen in dieser fragilen Mittellage durch die 90er Jahre geschlängelt. Severin Weiland
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