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Grüne zählen Parteiaustritte

■ Die Grünen vor der Zerreißprobe: An der Basis wachsen die Zweifel am Nato-Einsatz

Bonn/Berlin (taz) – Antje Radcke schlüpft in diesen Tagen in eine ungewohnte Rolle. Die Bundessprecherin der Bündnisgrünen muß darauf achten, daß sich die Parteibasis nicht allzuweit von den Akteuren in Bonn entfernt. Erst am Wochenende mußte die zum linken Flügel zählende Hamburgerin auf dem Landesparteitag der Brandenburger Grünen wortstark eingreifen, um eine Resolution gegen den Nato-Einsatz zu verhindern. Statt dessen nahm der Parteitag eine Erklärung an, in der davor gewarnt wird, der in Jugoslawien eingeschlagene Weg könne in „einer Sackgasse“ enden.

Nachdem bereits in der vergangenen Woche sieben Bundestagsabgeordnete, darunter Christian Ströbele, ein Ende der Luftangriffe gefordert hatten, folgten in den vergangenen 24 Stunden weitere Grüne und innerparteiliche Arbeitsgruppen. Wie einige prominente linke Berliner Grüne verlangte auch die baden-württembergische Landesarbeitsgemeinschaft Frieden die Einberufung eines Sonderparteitags. Dieser kann jedoch nur abgehalten werden, wenn das mindestens drei Landesverbände beantragen. Ob es dazu kommen wird, ist offen. Viele Kreisverbände wollen in den nächsten Tagen zu Diskussionen auffordern, um die Stimmung einzufangen. Der Berliner Bundestagsabgeordnete Ströbele will diejenigen zum Bleiben aufrufen, die derzeit mit einem Austritt aus der Partei liebäugeln.

Für einen Stopp der Nato-Angriffe sprachen sich gestern in einem Papier die Europa-Kandidatin Ilka Schröder und der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden, Uli Cremer, aus. Darin mißbilligen sie, daß grüne Regierungsmitglieder und die Mehrheit der grünen Bundestagsabgeordneten durch ihre Zustimmung im Bundestag zum Nato-Einsatz die politische Grundlage für die deutsche Beteiligung geschaffen hätten. Die Erklärung, der sich auch norddeutsche Grüne angeschlossen haben, ruft zu erneuten Friedensverhandlungen auf. Frühere prominente Grünen-Mitglieder wie Jutta Ditfurth forderten in einem an die Bundesregierung gerichteten Aufruf, den Krieg zu stoppen und die Bundeswehr zurückzuholen.

Die Parteibasis steht vor einer Zerreißprobe. Immer mehr Mitglieder setzen ein deutliches Zeichen, sie treten aus der Partei aus. Nur wenige Landesverbände haben aber bislang eindeutig Position bezogen. Neben den Brandenburgern veröffentlichte der linke Flügel der Berliner Grünen eine Erklärung. Darin fordern sie, den Krieg sofort zu beenden. Das jüngste Landesvorstandsmitglied, der 23jährige Tilman Heller, trat aus der Partei aus. An einer Resolution bastelte gestern auch der thüringische Landesvorstand. Darin fordere er zwar nicht das sofortige Ende der Luftangriffe, warne aber vor der Gefahr der Eskalation, sagte Sprecherin Anne Voß.

Die meisten Landesverbände lavieren noch zwischen der hilflosen Suche nach Alternativen zum Krieg und dem Wunsch nach sofortiger Beendigung der Angriffe. Mit „Bauchschmerzen“ umschrieben die beiden Geschäftsführerinnen der Landesverbände Hessen und Rheinland-Pfalz ihr Unbehagen. Die Massaker der Serben an Kosovo-Albanern vergrößern die Zweifel am Sinn des Nato-Schlages. Beide Landesverbände stehen aber weiter hinter dem Beschluß der Bundestagsfraktion.

In Schleswig-Holstein wie in Mecklenburg-Vorpommern ist die Forderung nach einem Sonderparteitag in den Landesverbänden „noch nicht diskutiert“ worden. Ralf Henze von der linken Gruppierung „BasisGrün“ hat „tierisch großen Frust an der Basis“ festgestellt. Viele Linke würden derzeit die Partei verlassen. „Im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern sind zwei Drittel der 450 Mitglieder gegen den Einsatz“, sagte Landesgeschäftsführerin Ulrike Seemann-Katz.

In Hamburg hält die Hälfte der grünen Regierungsfraktion die Militäroperation für falsch, heißt es aus dem Rathaus. Einige Grüne des linken Flügels haben eine Unterschriftensammlung „Stopp Kosovo-Krieg“ gestartet. In München forderten grüne Landtagsabgeordnete ebenfalls das Ende der Angriffe. Der Landesvorstand hingegen rechtfertigte den Krieg.

In Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen und Sachsen ist die Diskussion bei den Grünen noch in vollem Gange. Es gebe „wenig Chancen für einen klaren Beschluß“, sagte der sächsische Parteisprecher Karl-Heinz Gerstenberg.

Die Baden-Württemberger Grünen wollen, wenn überhaupt, erst Ende April auf ihrem Landesparteitag Stellung beziehen. Im Landesverband von Nordrhein- Westfalen wird laut Vorstandssprecherin Barbara Steffens deutlich, daß eine immer größere Mehrheit das Ende des Krieges wünscht. Der Vorstand hat an alle Kreisverbände ein Fax geschickt, um die Stimmung der Basis einzufangen. Und um die Austritte zu zählen. sev, juw, KPK, hh

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