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Die Hölle Gegenwart

■ Pro: Der „Faust“-Einüber Manfred Karge hat über weite Strecken ein faszinierendes Spiel geboten, auch wenn am Ende die Buhrufe lauter tönten

Die Akte Faust ist nicht geschlossen, weniger denn je im Goethe-Jahr. Manfred Karge schlägt eine neue Seite auf. Sorgfältig und liebevoll putzt er das alte Material, und auch wenn er manchmal glaubt, selbst Goethe zu sein und hie & da etwas abändern und hinzudichten zu müssen, bleibt er ein konservativer Liebhaber, der den alten Text, die schöne Sprache vor allen grellen, spektakulären, effektheischenden Experimenten schützt und ihm einen einzigen großen Raum gibt: Vorhang auf für einen Faust, der auf der leeren Bühne steht.

Das ist so einfach und so überzeugend, daß es alle anderen Faust-Versuchsanordnungen um Längen schlägt. Für Karge zählt das Wort, und wer es so gut spricht wie Peter Pagel, der darf ruhig als ziemlich alter Herr mit Rheumabeschwerden aus dem dunklen Hintergrund nach vorne humpeln. Sobald er anhebt zu reden, beherrscht Faust-pur diese Bühne. Seine Akte hat der liebe Gott (Lore Brunner) an Mephisto weitergereicht. Andreas Hermann ist ein in die Jahre gekommener Herr, kleinbürgerlicher Handelsreisender oder Versicherungsvertreter, armselig-freundlich (mit Honecker-Hut und Regenmantel) und hilflos vor der Stadt Leipzig, die von einem preußischen Zollbeamten vor Flüchtlingen aus der Welt geschützt wird.

Die Hölle der Gegenwart besteht aus schwarz gekleideten Schlagstock-Barbaren, die die Fremden prügeln und ins Feuer schicken. Mephisto, der arme Teufel, ist angesichts dieser neuen Teufel machtlos. Auerbachs Keller fällt demnach flach. Soll ich diese Erfindung von Manfred Karge als Zeigefinger-Pädagogik schelten? Nein, da ist zwar große Moral sichtbar, aber Karges Bild ist so stark, weil es schlicht bleibt.

Wenn er Faust in einen ungewöhnlich blühenden Jüngling verwandelt, dann findet er mit Franz Sodann ein Bild für den coolen Narziß dieser Tage, das ihm so schnell keiner nachmacht. Der liebesunfähige Schöne liegt nackt neben der nackten Margarete – sie wärmen sich aneinander, sie drehen sich in Löffelchen-Stellung sanft von einer Seite zur anderen, aber von Liebesgluten wissen sie wenig, und Faust weiß gar nichts davon. So nackt darf Margarete die Gretchen-Frage stellen: Wie hältst du es mit der Religion? Nackt steht der Jüngling auf, mit der Zigarette in der Hand geht er nach vorn. Dann schwadroniert er. Niemand wird ihm diese Worte glauben. Auch Gretchen nicht.

Später – im Kerker – legt er sich wie ein Säugling in ihren Schoß, von Rettung keine Spur. Margarete weiß genau, was sie will. Sie liebt diesen unreifen Jüngling, und Susanne Schrader gibt ihr auf faszinierende Weise die herben Züge der Frau, die jenseits ihrer engen Arbeitswelt heimlich-hingerissen vom Golde schwärmen kann, und sie zeigt sie als eine Frau, die noch in ihrer Trauer zu dem, was sie mit Faust getan hat, steht. Das ist eine Frau, die in ihrer Wehmut, in ihrer Sehnsucht, unter die Haut geht, und wenn sie am Ende des langen zweiten Teils, am Ende ihrer Tragödie mit dem Plastikbeutel, in dem das blutige, abgetriebene Fleischbündel verpackt ist, über die Bühne geht, dann hat die Inszenierung einen Höhepunkt erreicht. Aber Manfred Karge kann diese Spannung nicht halten. Er muß seinen Faust in peinlich-kitschige Arien zwingen, er muß aus der Walpurgis-Nacht eine spießig-lautstarke Sex-Orgie à la Blauer Bock im Bremer Ratskeller machen und er muß – welche Dummheit – Lore Brunner als Lieber Gott einen Epilog sprechen lassen, sinngemäß: Liebe Leute, das war's, wir bitten um gewogenen Beifall – und den zweiten Teil gibt's dann im November. Da war das Publikum böse, die Buhrufe überwogen die Bravos bei weitem. Zu Unrecht, denn Karge hat über weite Strecken über viele Stunden im leeren Raum ein faszinierendes Spiel geboten. Hans Happel

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