: „So still habe ich es nie gehabt“
Sils-Maria im Oberengadin ist seit Nietzsches Passion für diesen Erdenwinkel Anziehungspunkt für Intellektuelle und aufgeklärte Besserverdiener. Ihr standesgemäßes Domizil ist das Hotel Waldhaus. Der beschauliche Ort ist weit weg vom Schi-Schi in Sankt Moritz ■ Von Edith Kresta
„Im Sommer scheint Sonne, im Winter, da schneit's“, trällerte Vico Torriani in den sechziger Jahren, als die Schweiz noch eines unter wenigen Reiseländern war. Dieses Jahr hatte es wieder kräftig geschneit. Lawinenmeldungen und ununterbrochene Schneefälle auf den Titelseiten der Tageszeitungen. Die Schweiz war eingeschneit. Ski und Rodel gut. Die Schweizer Winterwelt ist in Ordnung.
Schon auf der Fahrt mit der Rhätischen Bahn von Chur nach Sankt Moritz wird das Image der hochklassigen Schweiz gepflegt. Stärker als die zweite Klasse der Schmalspurbahn ist allemal die erste Klasse frequentiert. Der Typ englischer Gentleman, wenn auch häufiger in seiner etwas kürzeren frankophonen Ausgabe, dominiert. Die rote Bahn schlängelt sich durch eine imposante Berglandschaft. Über tiefe Schluchten, vorbei an zu Eiszapfen erstarrten Wasserfällen, schneebedeckten Wäldern, einsamen Bahnhöfen hinauf in die lichte Weite des Oberengadin. Bilderbuchberge. Bergkulisse im Winterzauber, und irgendwo an den steilen Hängen thront sicherlich die Eisprinzessin und schaut auf den tief im Tal sich schlängelnden Inn.
Sankt Moritz ist Endstation der Bahn. Sankt Moritz ist auch der weltbekannte Vorort von Sils-Maria, unserem Reiseziel. Von dem etwa 12 Kilometer entfernten Sils fährt man nach Sankt Moritz, um eine Disco, eine Bar zu besuchen oder etwas neureichen Schi-Schi und Nachtleben zu schnuppern. Ansonsten kann man genausoviel Geld in Sils-Maria ausgeben, allerdings ruhiger, beschaulicher, möglicherweise auch inspirierter. Immerhin schrieb Nietzsche hier seinen Zarathustra, Thomas Mann residierte im Grandhotel Waldhaus, die Frankfurter Professoren Adorno und Marcuse hefteten sich auf die Spuren Nietzsches und viele andere vor und nach ihnen auch. Sils-Maria ist seit Nietzsches Passion für diesen Ort ein Anziehungspunkt für Intellektuelle, aufgeklärte Besserverdiener. Vielleicht, weil hier in diesem Hochtal kein Bergmassiv den Geist beengt, auch nicht das prätentiöse Auftreten des Geldadels wie in Sankt Moritz. Hier genießt man die ursprüngliche Bergwelt, die Seen, das besondere Licht des Hochtals, den fotogenen Postkartenkitsch. Man geht wandern, skifahren, Schlittschuh laufen. Und wenn der Geist von frischer Luft und Alpenglühn gesättigt ist, besucht man zur Abwechslung das Nietzsche-Museum. Zwischen 1881 und 1888 hielt sich Nietzsche jeden Sommer bis zu drei Monate in der Oberengadiner Hochgebirgslandschaft auf, seinem „liebsten Winkel der Welt“. Das alte Fachwerkhaus, wo Nietzsche wohnte, zeigt heute Aufzeichnungen, Bilder und den Werdegang des Philosophen. Dort kann man den „Zarathustra“ oder „Nietzsche-Zitate“ als Lektüre für sinnige Urlaubstage erstehen.
Oder man geht gleich zum Fünfuhrtee ins Hotel Waldhaus. Gediegene, erstklassige Hotellerie mit der Referenz langer Tradition. Ein Familienbetrieb. Ein Klassiker unter den Schweizer Grandhotels. „Unser Hotel aber in seinen unmäßigen Dimensionen, ist einer von den winzigen mit Zinnen gekrönten Bauten, die in der Kindheit die Tunnels zierten, durch welche die Zimmereisenbahn durchbrauste. Nun betritt man sie endlich und weiß, was drin war“, schrieb Theodor W. Adorno über das Waldhaus. Das Anfang des 19. Jahrhunderts erbaute Waldhaus blickt von oben auf das Dorf herab. Ein Nobelhotel mit Schloßattitüde in bester, naturgeschützter Lage.
Nachmittags kann man getrost immer tiefer in die dicken Sessel des Salons sinken. Das Trio Farka aus Slowenien – seit zwanzig Jahren Hauskapelle im Waldhaus – geigt den Gast in versonne Stunden. Aus dieser entspannenden Lethargie reißt ihn um 19 Uhr allenfalls die Aussicht auf ein bekömmliches Mahl mit einem Nachtisch aus der hauseigenen Patisserie. Der „schmeckt nach Paradies“, behauptet das kleine Mädchen am Nebentisch. Der ausladende Salon mit seinen schweren Vorhängen und dicken Teppichen atmet gewichtigen Konservatismus, gelassene Saturiertheit, nostalgische Zeitlosigkeit, angeregte Stille.
Die zwischen Jugendstil und Empire angesiedelte Inneneinrichtung entführt in die Zeit, als das Reisen noch einer kleinen, aber feinen Elite vorbehalten war. Damals, als europäische Adlige im Waldhaus ganze Etagen mieteten und sich samt Personal für Wochen dort niederließen. Die alte, hoteleigene Backstube wird heute als Museum genutzt. Vom Bidet, das dem Gast ins Zimmer gestellt wurde, bis zur alten Kaffeemaschine, die immerhin von 1927 bis 1990 in Betrieb war, sind viele respektable Hotelutensilien hier aufbewahrt. Ein vergilbtes Plakat wirbt für den „Thé dansant“ im Hotelgarten während des zweiten Weltkrieges. Mit Aktivitäten wie Tanztee versuchte das Hotel die Schatten des Krieges aus der Schweizer Idylle zu verbannen. Vergeblich. Die alten Gästebücher geben Auskunft: Der erste und der zweite Weltkrieg brachten die Geschäfte völlig ins Stocken. Harte Zeiten. Auch für die saturierte Schweizer Hotellerie.
Heute kann das Waldhaus nicht über Gästemangel klagen. Es floriert. Immerhin, so Geschäftsführer Felix Dietrich, hat das Haus eine Datei von 17.000 Stammgästen, die mindestens 250 Mark pro Übernachtung und Person zahlen. Dabei verschweigt Dietrich diskret die Prominenz einiger Stammgäste. Jeder Gast ist schließlich teuer und wird vom Chef persönlich begrüßt. Allabendlich. Das Waldhaus ist ein Selbstläufer, ein Geheimtiptip, ein Event und beliebte Filmkulisse – zuletzt drehte hier Claude Chabrol. Es ist Traditionshotellerie der aussterbenden Art, deren diskreter Charme sich sozusagen vererbt. Wenn zwischen Weihnachten und Neujahr ganze Familienclans bis zur dritten Generation hier dinieren, wird großbürgerliche Traditon verinnerlicht.
Und so ließ man zum 90. Jubiläum des Hauses nicht etwa ein Loblied auf das Waldhaus anstimmen. Weit gefehlt. Dietrich bat renommierte Gäste wie Luce Bondi, Claude Chabrol, Alexander Kluge oder Irene Dische zu schreiben. „Wir haben sie nicht gefragt, was sie übers Waldhaus denken, sondern was sie im Waldhaus denken“, so der Geschäftsführer. Stil verpflichtet, in diesem Fall zu klugen Essays zwischen Asylpolitik und Betrachtungen über die Geschwätzigkeit moderner Zeiten.
In Zeiten des Pauschaltourismus und der Inflation von Fünf- Sterne-Häusern weltweit ist das Waldhaus ein Rückgriff auf die Zeit vor der Demokratisierung des Reisens. Wenn der livrierte Kellner zum dritten Mal den unbenutzten Aschbecher wechselt, ist klar, hier blieb man gewissen Standards unbarmherzig treu. Und diese schätzt der Banker aus Zürich genauso wie die Arztfamilie mit zwei Kindern aus Berlin. Auch die allein reisende Dame, die schon den fünften Winter zwei Wochen hier verbringt. Mit seinen 150 Zimmern, 220 Betten und 10 Suiten, die nostalgisch renoviert wurden, mit seinem guten Service erfüllt das Waldhaus die Begehrlichkeiten einer zahlungskräftigen Klientel, die zu 35 Prozent aus Deutschland, zu 35 Prozent aus der Schweiz, aus Übersee und Japan kommt. Und natürlich liegen für den Stammgast aus Japan die Wanderwegebeschreibungen – ein Service des Hauses – auf japanisch aus.
Von seinem Innenleben ist das Waldhaus ein europäischer Mikrokosmos, eine Enklave für Gastarbeiter. 150 Mitarbeiter aus 15 Nationen arbeiten hier: Italiener, Portugiesen, Jugoslawen etc. Sie kommen als sogenante Saisoniers und wohnen teilweise mit ihren Familen im oder am Hotel. Dort bleiben sie unter sich. In Sils-Maria ist nur wenig von internationalem Flair, multikultureller Gesellschaft zu spüren. Hier zählt der Berg, der Engadiner. „Wenn man aus Zürich kommt, muß man sich an diese kulturelle Eintönigkeit, diese Eindeutigkeit erst gewöhnen“, meint selbst der Pressesprecher des Verkehrsamtes, Daniel Egloff.
Vielen Urlaubern und Stammgästen scheint diese Eindeutigkeit zu gefallen. Schweiz pur. Klein und überschaubar. Zauberhafte Berge, verträumte Seen, hohe Preise, gutes Essen, saubere Landschaft, bodenständige Menschen. Sils-Maria ist einer der bestlaufenden Ferienorte der Schweiz. Nachdem Erschließungspläne in den 70ern erfolgreich gestoppt wurden – der Bebauungsplan für 12.000 Hektar war schon beschlossene Sache – rühmt sich Sils Maria seiner dörflichen Idylle, seiner intakten Natur, seiner Stille. „So still habe ich's nie gehabt, und alle 500 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein“, schrieb schon Nietzsche. Das Kurortsleitbild trägt einem sanften Tourismus Rechnung: „Einem Tourismus von höchster Qualität und Güte, der zum Wohl der einheimischen Bevölkerung, der Gäste und der Umwelt gereicht... Der Charakter eines ruhigen, beschaulichen Bergkurortes ist zu bewahren.“ Sils- Maria hat sein Landschaftskapital und den Ruhm seiner berühmter Gäste unspektakulär verwertet und erfolgreich vermarktet. Und der lärmende, angestrengte Vorort Sankt Moritz ist ja – schlußendlich – nicht weit.
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