: Auf der Flucht ist der Frost der größte Feind
■ Durch Schnee und Eisregen kämpfen sich die Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Makedonien durch. Junge Männer, die den Grenzübertritt bereits geschafft haben, wollen wieder zurück, um Alten und Ki
Hier in den Bergen, dem Grenzgebiet von Makedonien, liegt nochtiefer Schnee. Von dem Dorf Buzovik aus schweift der Blick hinauf zudem verschneiten Paßweg.Von dort müssen die Flüchtlinge aus Kosovo auftauchen. Endlich gibt der Nebel schemenhaft einige Gestalten frei,die sich durch denSchnee und den Eisregen gekämpft haben. Als sie näher kommen,erkennt man eine Gruppe junger Männer. Erschöpft erreichen sie bei Tagesanbruch das Dorf. Erst als sie sich etwas ausgeruht haben,sind sie bereit, zu sprechen.Sie stammen von jenseits der Berge, dem Gebiet, das zur Stadt Prizren hin ausgerichtet ist. Mit Tränenin den Augen berichten sie von Angriffen serbischen Truppen, Spezialpolizisten und den Einheiten von Freischärlern aufihre Dörfer.
Am Donnerstag seien die serbischen Streitkräfte angerückt, hätten die Dorfbewohner aufgefordert, sofort die Häuser zu verlassen. Fünf Minuten Zeit hätten die Familien gehabt, einige Sachen mitzunehmen,dann seien die Serben in die Häuser eingedrungen und hätten sie angezündet.„Wir waren 500 Meter vom Dorf entfernt, dann sahen wir schon den Rauch aufsteigen“, erzählt der 18 jährige Shuka Makazoni.
Als die Soldaten kamen, habe ihn seine Mutter aufgefordert, zu verschwinden. Denn auf die jungen Männer würde Jagd gemacht.„DieSerben sehen uns als potentielle Kämpfer an“, sagt ein andererJunge, auch er 16 Jahre. Auch die anderen Neuankömmlinge sind Jungen dieses Alters. Einheiten der UCKhätte es in dem gesamten Gebiet nicht mehr gegeben, die seien schon vor Tagen verschwunden. „In unseren Dörfern hatten wir gar keineWaffen“,sagt einer.
Über 13 Stunden hat sich diese Gruppe durch den Schnee gekämpft. Schweigend blicken sie auf den Paß. Eine andere Gruppe junger Männer taucht auf. Schließlich sind mehrere hundert Menschen in dem Dorf versammelt.
Die Neuankömmlinge berichten von Kindern,die erfroren seien. Die Familien, die älteren Menschen, die Mütter mit Kindern hätten mit den jungen Leuten nicht Schritt halten können. Die Nacht sei sehr kalt gewesen. Viele der Frauenund Mädchen hätten sich im Wald versteckt.
Alle haben Angst um ihre Familien. Shuka will sich wieder auf den Weg machen. Zurück zur Grenze. Vom Tee gestärkt, will er sehen, ob er nicht dem Troß der Frauen, Kinder und älteren Menschen helfen kann. Auch einige andere schließen sich an und verschwinden hinter der Bergkuppe, von wod er Weg hinaufzum Paß führt.
Bei den Flüchtlingen handelt es sich um Bewohner der Dörfer Zoplust, Kosav, Kuk, Kapre und Zgatov. Alle diese Dörfer sollen verbrannt, zerstört worden sein. „Sie haben sogar das Vieh getötet“, erzählt ein Flüchtling. Auch aus anderen Dörfern wie Kuklibeg, Pllojnik, Brrut, Bellobrat, Brezne, Pllax, Buq sollen die Bewohner vertrieben worden sein.
Die Menschen im Dorf helfen, so gut es geht
Manche der Bewohner hätten sich geweigert, ihre Häuserzu verlassen. Vor allem ältere Menschen wollten nicht fliehen. „Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. Wahrscheinlich sind sie tot. Denn wir haben ihre Häuser brennen sehen,“ berichtet ein junger Mann.
Hier in diesem Bergdorf sind die Bewohner überrascht und erschrocken über das, was ihnen berichtet wird. Sie helfen, so gut sie können. Es ist ein armes Dorf, je zwei oder drei Kühe stehen in denS tällen, der Weg hierher ist beschwerlich und nur von Geländewagen zu bewältigen. Hilfsorganisationen sind hier noch nicht aufgetaucht. Lediglich die deutsche Nothilfe-Organisation „CapAnamur“ hat versprochen, noch im Laufe des gestrigen Tages Lebensmittel und Wasser fürdie Flüchtlinge bereitzustellen.
Dafür sind ganze Berge von Brot und Wasserflaschen am Grenzübergang Jazhince aufgetürmt. Dort führt die Straße von Prishtina nach Tetovo in Mazedonien. Makedonische Polizisten haben einen Ring um das Gelände gelegt. Unbefugten ist der Zutrittverboten. Daher spielen sich herzerschütternde Wiedersehensszenen etwas weiter entfernt auf einem Parkplatz ab.
Seit den frühen Morgenstunden dieses Freitags haben hier bis 10 Uhr vormittags über 2.000 Menschen die Grenze passiert. Mit Autos und mit Bussen, viele auch zu Fuß, erreichen sie die rettende Seite, Makedonien. Die meisten stammen aus Prishtina, aber auch aus Kosovska Mitrovica und umliegenden Orten. Der Zug der Vertriebenen sei hier schon 15 Meter lang, berichten die Leute, die heute schneller als vorher abgefertigt werden. Ein Auto nach dem anderen passiert jetzt die Grenze.
Alle erzählen die gleiche Geschichte: wie die Sonderpolizisten gekommen seien, wie sie aufgefordert wurden, in fünf Minuten das Haus zu verlassen, wie das Haus angezündet und wie ihnen hier kurz vor der Grenze, die letzten Wertsachen und Geld abgenommen worden seien. Bei einer Frau waren es 6.000 Mark, bei einem Geschäftsmann 20.000, er verlor noch seinen Mercedes an einen serbischen bewaffneten Zivilisten. Zu Fuß, nur mit einer Tasche, hat er mit Frau und drei Töchtern die Grenze überschritten. Und ist froh, überlebt zu haben.
„Die Albaner werden alle aus Kosovo vertrieben,“ sagt Betty, eine Amerikanerin, die für eine Hilfsorganisation aus Los Angeles Lebensmittel herbringt. An dem Grenzübergang nach Skopje, General Janković, von dem sie gerade kommt,stünden 35.000 Menschen und warteten auf ihre Abfertigung. Sind es schon 200.000, 300.000 oder 400.000, die Kosovo in den letzten Tagen verlassen mußten?
Muhamed Ls. Haus liegt einen Steinwurf entfernt auf der anderen Seite, im Kosovo. Deutlich sind die serbischen Soldaten zu sehen, diedas Haus beschlagnahmt haben und von dort aus mit Ferngläsern die Szenerie an der Grenze beobachten. Die vor einer Woche in dem nahegelegenen Nachbardorf Kotline 200 eingeschlossenen Frauen und Kinder seien zum Teil gerettet, berichtet Muhamed. Vor einer Woche seien nach Berichten der Frauen 30 junge Männer des Dorfes von den Serben hingerichtet worden. Erich Rathfelder,Tetovo
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