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„Wo werden sie heute zuschlagen?“

In Belgrad gehört das Warten auf die nächtlichen Luftangriffe mittlerweile zum Alltag, auch wenn die Raketen immer näher kommen. Die Bevölkerung verflucht die Nato und fühlt sich vom Westen ungerecht behandelt  ■ Aus Belgrad Andrej Ivanji

Seit Tagen führt das schauerliche Aufheulen der Sirenen die Nacht in Belgrad ein. Danach wird es totenstill. Mit Einbruch der Dunkelheit stirbt das vertraute Brummen der Großstadt. Die Straßen sind menschenleer. Der Verkehr wird um 20 Uhr eingestellt. Bedrückende Ungewißheit zerreißt die Menschen. Man wartet auf die Schläge der Nato. Kürzlich explodierte eine Rakete mitten in der Stadt unweit der Entbindungsstation einer Klinik.

„Wo werden sie heute zuschlagen?“, fragt die Ärztin Vesna Ilić. Ihre fünfjährige Tochter Anja hat sich im Luftschutzbunker erkältet. Ilić beschließt, in der Wohnung zu bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie getroffen werden, sei sehr gering. Es sei gescheiter, das Kind einmal ausschlafen zu lassen. Trotz allem. Alle Fensterscheiben sind vorsichtshalber mit einem breiten Band verklebt. Die Jalousien fest verschlossen. „Die Verletzungen von Glasscherben sind schrecklich. In unmittelbarer Nähe einer Explosion fliegen sie mit einer solchen Wucht durch die Luft, daß sie einen Menschen förmlich durchlöchern können“, sagt Ilić.

Doch am Sonntag um 4.30 Uhr bereut sie es, nicht in den kalten Luftschutzkeller gegangen zu sein. Zuerst hört sie ein zischendes Geräusch in der Luft. Dann die Detonationen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Wie ein Erdbeben. Vesna nimmt ihr Kind und springt aus dem Bett. Durch das Fenster sieht sie eine haushohe Feuerflamme. Asche fliegt durch die Luft. Im kristallklaren Morgengrauen ist der Mond durch die riesige pechschwarze Rauchwolke kaum zu erkennen. Das Feuer ist kilometerweit zu sehen. Dann folgen schwächere Detonationen.

Solche Szenen gehören hier mittlerweile zum Alltag. Mit unbegreiflicher Arroganz peilt die Nato Ziele mitten in der Stadt an, in unmittelbarer Nähe von Krankenhäusern und Wohnsiedlungen. Immer in der Nacht. Damit zivile Opfer vermieden werden, erklären Nato-Generäle besorgt.

Der Morgen bringt Ernüchterung. Die Angst ist erstmal vorbei. Man hört Nachrichten. Die alte Zuckerfabrik in Belgrad ist getroffen worden. Die Polizeiakademie, keine hundert Meter vom größten Krankenhaus des Landes entfernt, das Luftwaffenkommando in der Hauptstraße vom Belgrader Vorort Zemon. Die Gebäude des Innenministeriums. Das Heizwerk. Der zivile Flughafen bei Belgrad. Zwei Brücken in Novi Sad. Verschiedene Benzinlager in Serbien. Eine Chemiefabrik. Eine Fabrik für Haushaltsgeräte ... Man verflucht das sonnige Wetter, denn es ist ideal für Luftangriffe.

Der 30jährige Germanist Stanko Obradović nahm an allen Massenprotesten gegen das serbische Regime teil. Nun besucht er die Konzerte, die unter dem Motto „Mit Liedern gegen Bomben“ täglich im Zentrum Belgrads organisiert werden. Er hat den Glauben an den Westen verloren. „Jeder weiß, wie schweinisch sich das serbische Regime im Kosovo aufführt. Doch damit kann doch nicht die skandalöse Schweinerei der Nato gerechtfertigt werden, ein souveränes Land systematisch zu zerstören“, sagt Stanko entrüstet. Es sei so heuchlerisch zu behaupten, diese blindwütige Vernichtung sei nicht gegen das serbische Volk, sondern gegen Slobodan Milošević gerichtet. Denn dessen Macht wird immer stärker. Ist der Krieg erst einmal beendet, werde eine humanitäre Katastrophe im verwüsteten Serbien ausbrechen. Hier vegetierten schon über eine halbe Million serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. „Das Leid der Serben kümmert den Westen einen Dreck“, sagt Stanko. „Was hat Europa denn getan, als Kroatien in sieben Tagen eine halbe Million Serben vertrieb? Nichts!“

Am 6. April 1941 befahl Adolf Hitler Belgrad zu bombardieren. Es war der orthodoxe Ostersonntag. Nun sind wieder deutsche Kampfjets über Serbien. Am orthodoxen Ostersonntag 1944 bombardierten die Alliierten das von den Nazis besetzte Belgrad. Die Stadt wurde zerstört. Nächsten Sonntag sind wieder orthodoxe Ostern. Wieder wird Belgrad bombardiert. Als wäre das ein Fluch.

Wenn die Nato sagt, die alte Brücke in Novi Sad sei wegen ihrer Funktion für den militärischen Nachschub im Kosovo zerstört worden, löst das hier verbittertes Lachen aus. Diese Brücke wird seit über zwanzig Jahren von der Armee nicht mehr genutzt, weil sie auf beiden Seiten für Konvois und Panzer ungeeignete Straßen hat. Immer wieder mußte diese 1945 von deutschen Kriegsgefangenen gebaute Brücke repariert werden, damit sie überhaupt den zivilen Straßenverkehr aushält.

Das alte Gebäude in Zemon, das die Nato als „Luftwaffenkommando“ zerstörte, wurde für Hochzeitsfeiern vermietet. Das Luftwaffenkommando ist längst woanders. Diese Angriffe können kurzfristig Jugoslawien nicht schwächen. Langfristig kann man das Land solange zerstören, bis es zusammenbricht. Man glaubt hier, es ginge um nichts anderes mehr, als um einen Sieg der Nato, die ihr Bestehen rechtfertigen muß.

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