: Denn es macht einen großen Unterschied, ob du Geld hast
Vor vier Monaten kamen die Gashis aus dem Kosovo. Wie es ist, in Sicherheit zu sein und von den Verwandten aus dem Fernsehen zu erfahren ■ Aus Neumünster Heike Haarhoff
Sie hatte wochenlang nichts gehört von ihm. Aber als er in jener Nacht im vergangenen Spätherbst vor dem Haus ihrer Eltern in Mitrovica stand und stammelte, der Doktor sei tot, umgebracht, ermordet von den Serben, wußte sie sofort, was Sache war – auch ohne nachzufragen, wie es ihm ergangen sei. I had to marry him, ich mußte ihn heiraten.
Denn wie sonst ihren Eltern beibringen, daß der junge Medizinstudent Fitim Gashi aus dem Nachbardorf Skenderaj ab sofort, ab dem Tod des Doktors, sich verstecken und zu diesem Zweck bei ihnen in Mitrovica einziehen würde. Vorerst jedenfalls. In Kosovo, you cannot live together without being married, im Kosovo kannst du nicht zusammenleben, ohne verheiratet zu sein, und schon gar nicht im Krieg, in dem man noch stärker als sonst zusammenhalten muß und der ja damals schon tobte. Vorerst. Das bedeutete, bis zum 26. November, dem Tag seiner Flucht ins Ausland. Und ihrer, Shyqerijes, natürlich.
Die Café-Bar in der ehemaligen Scholz-Kaserne in Neumünster hat etwas von norddeutscher Schützenfesthalle. Grellorange Gardinen, derbe Sitzbänke und Holztische wie die in Schulen, in die man, wenn gerade keiner guckt, Sprüche einritzen möchte. Fuck the war etwa. Jeden Abend zwischen 18.30 Uhr und 19.30 Uhr findet hier der Krieg statt. Das albanische Fernsehen überträgt Bilder zerstörter Städte, Gerippe ausgebrannter Häuser und posierende UÇK- Kämpfer in den Aufenthaltsraum der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge und Asylbegehrende in Schleswig-Holstein.
Fitim und Shyqerije Gashi finden sich immer pünktlich ein. Sie zuckt die Schultern. It's the only thing we have to do here, es ist das einzige, was wir hier zu tun haben. Aber sie gucken kaum noch hin. Wer behauptete, der Krieg im Kosovo sei ein virtueller, hat geirrt. In Neumünster jedenfalls ist er das nicht. Viel zu frisch sind die eigenen mörderischen Erlebnisse der 142 Kosovo-Albaner, Frauen, Männer, Kinder, die sich vor sechzehn, zwölf oder teilweise auch erst vor sechs Wochen auf abenteuerlichem Weg nach Neumünster retteten. Viel zu frisch, als daß sie zusätzlich aufrüttelnde Fernsehbilder bräuchten. It couldn't be worse, es könnte nicht schlimmer sein, nicht schlimmer, als es bereits vor den Nato-Bomben war, vermutet Fitim, und, nüchtern, als prognostiziere er die Bestandsentwicklung einer Pflanzenart: Without the Nato, ohne die Nato würden im Kosovo vielleicht gar keine Leute mehr leben.
Because the doctor had with him the names of all the students when the Serbs caught him, weil der Doktor die Namensliste aller Studenten bei sich trug, als die Serben ihn schnappten: Deswegen waren Fitim Gashi, 26, und seine Frau Shyqerije, 25, in Lebensgefahr. Fitim, weil er im vorigen Herbst, noch nicht fertig mit der Ausbildung, die medizinische Fakultät in Priština verließ: um seinem Prof, dem Doktor, auf den Schlachtfeldern von Drenica im Westen des Kosovo, wo Serben und Kosovaren sich schon damals blutige Gefechte lieferten, zur Hand zu gehen. Um das Leid der Zivilbevölkerung mit mageren 0,5 Milliliter Penicillin pro Person und ein wenig Verbandmaterial zu lindern. Shyqerije, weil sie das richtig fand.
Das Seufzen ist kaum hörbar. Dann schlägt die Frau vorn im Neumünsteraner Fernsehsaal die Hände vors Gesicht. Seit Minuten schon verliest der Nachrichtensprecher Listen mit Namen zumeist Unbekannter, alphabetisch und nach Dörfern geordnet. Die Frau steht auf. Sie wankt. 50 Augenpaare richten sich einen Moment lang auf sie. Niemand sagt einen Ton. Niemand begleitet sie nach draußen. Man könnte sonst die Todesfälle in der eigenen Familie verpassen.
Shyqerije flüstert. This woman is not well, dieser Frau geht es nicht gut. Drei Verwandte hat sie verloren, drei Menschen, die sie zurückgelassen hat.
Not well, nicht gut. So wie die meisten von ihnen. For it makes a difference, denn es macht einen Unterschied: ob du vermögende Verwandte im Ausland hattest, die dir – kurz bevor die Nato ihre Bombardierung startete und eine Flucht in die Schweiz, nach Deutschland oder Italien noch machbar war – die von den Schleppern verlangten 5.000 Mark pro Person zusteckten. Oder ob du arm warst und keine Wahl hattest. For it makes a difference: ob du dich schon vor Jahrzehnten in Deutschland eingerichtet hast oder erst vor ein paar Wochen. Ob du so fließend Englisch sprichst, so wie Shyqerije und ihr Mann Fitim es tun, so daß du dich immer irgendwie durchschlagen wirst. Oder ob du mit ein bißchen Glück es bestenfalls bis in ein überfülltes Flüchtlingslager in Albanien schaffen kannst. It makes a difference.
Shyqerije sitzt auf ihrer Matratze und heult. Zwei Betten, drei Stühle, ein kleiner Tisch und ein Schrank, in dem sich die paar Habseligkeiten, die das Ehepaar mitbringen konnte, verlieren. Flüchtlingsunterkünfte sehen alle gleich aus. An den Wänden Poster aus dem „Tierfreund“, neben dem Fernseher – ein Geschenk von Landsleuten, die schon länger in Deutschland leben – ein weißes Plüschtier, auf dem Fernseher ein zweiflügliger Bilderrahmen, rechts das Hochzeitsfoto, links die unvermeidbaren roten Rosen. Sometimes I feel like a coward, like a treat, manchmal fühle ich mich wie ein Feigling, wie ein Verräter.
Ihre Eltern sagten: Go, if you have to, wenn du gehen mußt, dann geh. Wir können nicht mit dir kommen, wir sind zu alt. Shyqerije kramt blütenweiße Häkeldeckchen hervor. Drei Decken in fünf Wochen, sie muß wie besessen daran gearbeitet haben. My mother and I always did this to make money, when my father had again lost his job, meine Mutter und ich machten das immer, um Geld zu verdienen, wenn mein Vater wieder einmal seinen Job verloren hatte. Fitim hat seine Familie nicht einmal über seinen Fluchtplan informieren können. At that time, all the ways were blocked, damals waren alle Wege blockiert zu seinem Dorf. Bis heute hat er weder Eltern, Geschwister noch Onkel oder Tanten übers Handy zu fassen gekriegt. Was heißt jemanden im Stich lassen auf englisch? Was, wenn sie doch geblieben wären? Wenn Fitim, der doch kurz vor Abschluß seines Medizinstudiums stand, die 10.000 Mark für seine und Shyqerijes Ausreise auf dem Schwarzmarkt in Medikamente investiert hätte? Wer den ganzen Tag zum Grübeln verdammt ist, dem kommen solche Gedanken. Da wird Shyqerije plötzlich energisch. Hält den Rücken so aufrecht, als stehe sie im Zeugenstand und müsse ihren eigenen Mann von der Wahrheit überzeugen. Listen, paß auf, wenn wir Waffen gehabt hätten, wären wir dageblieben, um unsere Leute zu verteidigen. Hatten wir aber nicht.
Nein? Sie klingt fast patzig, so als begreife sie die Frage als Vorwurf. Eins will sie mal klarstellen: daß sie eine Studentin der Metallurgie war, auch sie kurz vor dem Abschluß, nur die Diplomarbeit fehlte noch, eine ganz stinknormale Studentin, die no relation, keine Verbindung zur bewaffneten albanischen Militär- Untergrundorganisation UCK haben wollte, sondern nur our freedom, unsere Freiheit, das Recht auf eigene Schulen und Universitäten, die Anerkennung ihrer Sprache. Und Autonomie, ja. Aber was heißt Autonomie? Fitim fährt sich durchs kurze braune Haar. Er blickt seine Frau an. Er stimmt sich gern mit ihr ab, insbesondere, wenn seine politische Meinung gefragt ist. Um die kümmerte sich bislang kaum jemand. Jetzt soll er plötzlich eine haben.
Friedrich Kortüm bietet Kaffee an. Der Leiter des schleswig-holsteinischen Landesausländeramts hat sein Büro gleich neben den Flüchtlingsunterkünften in der ehemaligen Kaserne. Er hat es sich hübsch gemacht. An der linken Wand hängt Lübeck, an der rechten die weite Welt: Das Foto eines verwirrenden Wegweisers mit mindestens 20 Pfeilen und Ländernamen in alle Himmelsrichtungen, wie es sie in Irland an jeder Straßenecke gibt. Zwischen den beiden Extremen hat die handgebastelte Zeitung zu seinem 60. Geburtstag einen Ehrenplatz bekommen, drei Jahre ist der her. Friedrich Kortüm ist am Ende seiner beruflichen Karriere, und deswegen glaubt er mit Bestimmtheit sagen zu können, daß „die Kosovo-Albaner nicht so straff organisiert sind wie beispielsweise die Kurden“.
Großdemonstrationen, Gewalttätigkeiten, Straßenschlachten. Hat es alles nicht gegeben in Neumünster, nicht bei den Kosovo-Albanern, und auch nicht nur deswegen nicht, weil derzeit keine Serben in den backsteinroten Militärgebäuden leben. Sagt Kortüm. Daher macht es ihm auch wenig Sorge, daß voraussichtlich an diesem Donnerstag schon einige der rund 10.000 Flüchtlinge, die das kriegsführende Nato-Deutschland evakuieren will, auch nach Schleswig-Holstein kommen werden. „Wir sind vorbereitet.“
Sicher. Aber wie wird die Stimmung sein, wenn erst die Menschen da sind, deren Elend sich Beobachtern zufolge seit dem Luftkrieg, den Deutschland mitverantwortet, noch verschlimmert hat? „Gehen Sie hin, fragen Sie sie.“ Diejenigen, die man jetzt schon fragen kann, zumindest.
Der Helfer vom Deutschen Roten Kreuz, der die Flüchtlinge von Neumünster betreut, klopft an Türen. Fünf Männer und eine Frau sind bereit, Auskunft zu geben. Shyqerije und Fitim Gashi sind dabei. Der Tisch im DRK-Sitzungszimmer ist zu groß, als daß man auf eine entspannte Gesprächsatmosphäre hoffen dürfte. Schüchtern harren sechs Personen der Fragen. An der Wand hängt ein Poster vom Deutschen Roten Kreuz, eine Weltkugel, fest umwikkelt mit Stacheldraht. Nur an einigen Stellen ist er durchschnitten. „Durch Menschlichkeit zum Frieden“ steht da.
Was ist Menschlichkeit? Irgendwann traut sich doch einer, das Schweigen zu brechen. Es ist Ardian Krasniqi, ein sportlicher Typ mit ultrakurzen Haaren, der Leichtathlet werden will. Wenn der Krieg vorüber und das Kosovo ein eigenständiger Staat sein wird. Der Rest ist too complicated, zu kompliziert zu erzählen, Shyqerije muß übersetzen. After Rambouillet, it might have still been possible to live together in one state with the Serbs, nach Rambouillet wäre es noch möglich gewesen, in einem Staat zu leben mit den Serben. Seit den Nato-Angriffen und der zunehmenden Brutalität, mit der Kosovo-Albaner deportiert werden, gilt diese Option am DRK-Tisch in Neumünster als ausgeschlossen. War die Nato-Attacke also doch ein Fehler? Es wird hin und her debattiert, und Shyqerije sieht aus, als wolle sie unbedingt Konsens herstellen zwischen sechs völlig unterschiedlichen Menschen. The Nato should have come one year before, when there was the first massacre, die Nato hätte schon vor einem Jahr eingreifen sollen, als das erste Massaker bekannt wurde.
Und jetzt solle die Nato troops, Bodentruppen schicken gegen die Serben, it is Europe's duty, das ist Europas Pflicht. Weil etwa die Serben alles ganz allein verbockt haben? Die Frage kommt nicht gut an. Ein grobschlächtiger Blonder aus der Runde zückt sein Notizbuch. Dann hält er eine kleine Rede. Jedes Wort klingt wie ein Befehl. Leider alles albanisch. UÇK doesn't kill innocent people, die UÇK tötet keine unschuldigen Menschen, mehr als dies ist aus Shyqerije nicht herauszukriegen.
Friedrich Kortüm erweist sich in schwierigen Situationen als praktisch denkender Mensch. Ja, wenn denn alles gesagt sei, schlägt er vor, könne man doch in die Kantine gehen. Schließlich hat die Essenszeit bereits begonnen. „Sie müssen wissen, es geht hier trotz allem sehr regelhaft zu.“
Unterwegs hält Fitim einen kurzen Moment inne. Er studiert die ordentlich geharkten Blumenbeete auf dem stillgelegten Kasernengelände. Herr Kortüm hat vorgeschlagen, daß sich die Flüchtlinge ein wenig an den Gartenarbeiten beteiligen könnten, freiwillig selbstverständlich, zum Zeitvertreib. Fitim ist noch zögerlich. Doch er würde wohl mitmachen. Vielleicht hilft das, die innere Nervosität auszutricksen, die ihn und Shyqerije schon Tage und Wochen und Monate ziellos umherwandern läßt. Er sucht nach einem Vergleich, like chicken without heads, wie kopflose Hühner.
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