: Plastikjesus mitten unter fliegenden Keulen
■ Zum Auftakt seines dreitägigen Geburtstagsmarathons lud das Varieté Wüst viele entzückende Seltsamkeiten und ein echtes Genie ein
„Ihr Journalisten tut euch immer schwer mit den headlines; am besten man liefert sie euch gleich selbst“, scherzt Ernst, ein Gründungsmitglied von Varieté Wüst – und schlägt für diesen Text „Die taz unter den Varietés“ vor. Als unabhängiges Blatt können wir das Angebot leider nicht annehmen. Außerdem feiert Wüst nicht den zwanzigsten, sondern erst seinen achten Geburtstag, befindet sich also noch immer in der Präadoleszenzphase. Allerdings ist es hinter dem Berliner „Scheinbar“ das älteste Artistenkollektiv Deutschlands. Aber wie viele Artistenkollektive gibt es eigentlich in diesem Land?
An der Wüsten Stätte im Schnoor fing alles an, „zwei Mal monatlich – wir hatten eine Art Undergroundkultstatus“, erinnert sich Andi Steil. Seit dem Umzug ins Bürgerhaus Weserterrassen kommt der „klassische Weserterrassenmischmasch“, Vorruheständler, Neusiemensingenieure, Frischabi-turienten, alles eben. Ist das jetzt abwertend gemeint? „Neiiiin.“ Schließlich ist Wüst nachgerade ein Hymnus an den (oder das?) Mischmasch. Und zwar nicht nur aus Jonglage, Liedermacherei, Sketch, Bauchrednerei, Chançons und Zaubertricks, sondern aus beeindruckenden artistischen Fertigkeiten und Schrulligkeiten. Zum Beispiel Klaus. Er kann nicht Gitarre spielen, noch weniger singen, sieht aus wie der letzte überlebende Pfadfinder und macht das beste draus – mit ein bißchen Selbstironie. Nach einem leidlich lustigem Antiliebeslied besingt er einen Plastikjesus, der die Armaturen eines Autos ziert, mit ausgefeilter Bizarrerie. Und aus dem Mittelmaß blitzt Meisterschaft.
Klaus und Kollegen sind nicht etwa im Hauptberuf Physiker, Lehrer, Metzger, sondern leben von der Kunst. Auf Geburtstagen, Beerdigungen, Firmenfeiern läßt sich in 8/17/35,7 Minuten (da hat jeder seine eigene Durchhaltequote) ein Sümmchen verdienen „irgendwo zwischen Michael Schuhmacher und einer Einzelhandelskauffrau“, meint Ernst. So um die 500 Mark? „Deutlich mehr. Die allermeisten, die mich skeptisch fragen, ob man von dem Job überhaupt leben könne, verdienen nur einen Bruchteil von uns. Wir existieren eben in einem Entertainmentzeitalter.“
Jonglage gibt es so lange, wie Fred Feuerstein auf Barni Geröllheimer mit der Keule losging, also seit dem Urknall (wahrscheinlich war dies sogar der Urknall). Also sucht jeder (80 Prozent der Varietékünstler sind Männer, also geht das mit dem fehlenden großen I schon in Ordnung) seinen eigenen Dreh. Agon aus dem französischen Worpswede erzählt zum Tanz der Bälle eine Geschichte: Wußten doch schon immer, daß Superman in Wahrheit nur ein blauer Ball und Triebtäter genau dassselbe nur in Gelb sind. Timo, schwarzfrackig gekleidet, wäre wohl am liebsten Klaviervirtuose, Ballett- oder Tangotänzer geworden. Jedenfalls holt er deren erhabenen Ernst und Zackigkeit ins luftige Spiel der Keulen hinein: ziemlich kurios, aber eben auch virtuos. Wohingegen Ernst – ja genau der vom Bremer Marktplatz – es mit den Witzchen nimmt wie mit den Keulen. Abstürzen dürfen sie schon mal, müssen aber schnell, schwerelos und glitzernd sein. Eigentlich, findet Ernst, bräuchte das tranige Bremen, wöchentlich, ach was, täglich solche Launigkeiten. Aus pragmatischen Gründen hat sich Wüst vorerst auf sechsmal pro Jahr geeinigt.
Dann war da aber auch noch ein echtes Voll-Genie, Uwe Woitas, der hatte gar nichts in Händen aber eine durchdrehende Assoziationsmaschine im Kopf. Ihn scheint die Welt, wie sie ist, zu langweilen. Deshalb erfindet er sich eine neue. Menschen trainieren nicht am Hometrainer, sondern in einem Stangenwald, der die ganze Wohnung verbarrikadiert. Straßenkünstler verdienen sich ihr Geld nicht mit Kartentricks, sondern mit der Imi-tation von Gebäuden. Die Erzählfäden seiner Geschichten sind in etwa so verzweigt wie das Donaudelta. Und die Sprachspielereien sind entweder luzide wie Arno Schmidt oder echt mies: An einem Wodkakelch sieht er Vögel, die nicht vögeln, und Schafe, die nicht Rasen mähen. Das erstaunliche an solch verbalem Gekreuch und Gefleuch: Mit einer charmanten Mischung aus Understatement und Märchenonkellaune kann Uwe Woitas solche Merkwürdigkeiten erzählen, und man findet es ganz wunderbar. bk
Letzter Abend: 10. April, 20.30 Uhr, Bürgerhaus Weserterrassen
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