Bauernsozialismus mit Computer

■ China: Zehn Jahre nach Beginn der Tiananmen-Revolte haben sich die Kommunisten wieder einen Platz in der Geschichte gesichert

Heute vor zehn Jahren löste der natürliche Tod eines kommunistischen Reformpolitikers in China den vielleicht folgenreichsten Aufstand des späten 20. Jahrhunderts aus. Der im Volk beliebte, doch von der Partei geschaßte Ex-Parteichef Hu Yaobang starb am 15. April 1989 an einem Herzanfall. Wenige Tage später demonstrierten Hunderttausende auf dem Tiananmenplatz für die Freiheit der Andersdenkenden. Der Platz symbolisierte die erfolgreiche 49er Revolution. Nun war er wochenlang von Tausenden Studenten und Arbeitern besetzt, die als „fusionierende Gruppe“ den Wesenszug revolutionären Handelns entdeckten: die durch die gemeinsame Praxis geschaffene und in der spontanen Aktion verwirklichte „Brüderlichkeit“. Die von Jean-Paul Sartre bei der Darstellung der Französischen Revolution von 1789 beschriebenen Phänomene der „groupe en fusion“ und der „fraternité“ führten in Peking zum gleichen Ergebnis wie zweihundert Jahre zuvor in Paris: Erstmals schrieb sich eine Massenbewegung im seit Jahrhunderten kaiserlich/ kommunistisch regierten China die drei Forderungen des Republikanismus auf die Fahnen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Seither kann nichts mehr das Virus der Freiheit töten.

Der Pekinger Aufstand endete am 4. Juni 1989 mit seiner gewaltsamen Niederwerfung. „Es war das beste Blut Chinas, welches auf dem Tiananmen geflossen“, läßt sich in Abwandlung der Worte Heinrich Heines über die Pariser Aufstände von 1832 sagen: „Kein einziger war dabei, der einen bekannten Namen trug oder den man früher als einen ausgezeichneten Kämpen des Republikanismus gekannt hätte. Überhaupt scheint die Weltperiode vorbei zu sein, wo die Taten der einzelnen hervorragen; die Völker, die Parteien, die Massen selber sind die Helden der neuern Zeit.“

Der Aufstand von 1989 brachte China einen großen Schritt in Richtung dieser neuen Zeit voran. Seither haben die Chinesen Mao abgeschworen, den „letzten Kaiser“ Deng begraben, und nichts deutet darauf hin, daß sie aufs neue gewillt wären, einen Herrscher von Himmels Gnaden zu dulden. Jiang Zemin besitzt diese Autorität jedenfalls nicht. Trotzdem ist zehn Jahre nach den Tiananmen-Ereignissen vor allem von Rückschlägen die Rede. Verständlich mag das bei den Angehörigen der Opfer sein, die seither erfolglos für deren Rehabilitierung streiten.

Ebenso verständlich ist die Enttäuschung der Dissidenten im Ausland, die selbst das Land regieren wollen. Unerklärlich aber bleibt, warum der westliche Blick auf China immer noch so eng an den düstersten Stunden des Aufstandes haftet und die Fortschritte ignoriert, die China heute inmitten der Asienkrise zu der vernünftigsten Entwicklungspolitik befähigen, die man sich derzeit nur wünschen kann.

Die chinesischen Kommunisten haben einen Großteil der Lektionen von 1989 verstanden. Sie sind sich bewußt, daß sie sich den armen Mann nicht zum Feind machen dürfen. Das erfordert in keinem Land der Welt soviel Arbeit wie in China. Auch heute ist es nicht leicht, die durch die Privatisierung der Staatsbetriebe erzeugte Massenarbeitslosigkeit dem Volk zu erklären.

Doch die Kommunisten haben auf diesem Gebiet Erfahrungen und Erfolge: Ihre sozialistische Landreform von 1978 sichert 900 Millionen Bauern, knapp drei Vierteln der chinesischen Bevölkerung, ein erbliches Bodenrecht. Mit dieser Reform wurden über 200 Millionen Bauern in den vergangenen zwei Jahrzehnten über die Armutsgrenze befördert.

Ebenso wichtig ist die aus der Revolte von 1989 geborene Reformidee von der „sozialistischen Marktwirtschaft“ (Deng, 1992). Die Kommunisten mußten vor zehn Jahren einsehen, daß sie ihre beinahe verlorengegangene Macht nur in Gemeinschaft mit Wissenschaft und Wirtschaft restaurieren konnten. Das gelang ihnen durch die Freisetzung des Marktes und die Öffnung des Landes für technologische Innovationen. Nicht die Zensur einiger Dissidentenseiten im Internet ist kennzeichnend für die Entwicklung, sondern die Einführung des Computers als Massenkommunikationsmittel in eine Agrargesellschaft, deren Lebens- und Bildungsstandard dem unserer Gesellschaften des 19. Jahrhunderts entspricht.

Wie sehr sich die Kommunisten inzwischen die Freiheit des Marktes zu eigen gemacht haben, belegt ihre neue Sozialpolitik: Sie wird seit Beginn der Privatisierungen vor zwei Jahren als nationales und regionales Umlageverfahren geplant. Damit ist die Illusion gestorben, privatwirtschaftliche Betriebe könnten für sämtliche Sozialleistungen aufkommen. Der Sozialstaat aber, der in Europa erst als Ergebnis zweier Weltkriege und ihrer ideologischen Zerwürfnisse entstand, wird von den chinesischen Kommunisten heute genauso wie der Computer als Ultima ratio des Fortschritts eingeführt. Es mag der nackten Angst um den Machterhalt geschuldet sein, aber mit solchen Regierenden kann das Volk leben.

So ist heute die historische Rolle der KPCh noch einmal neu zu bewerten, nachdem viele Intellektuelle der Partei jegliche Legitimation nach der Revolte von 1989 entzogen hatten. Inzwischen müssen sich die Kommunisten sogar dort bewähren, wo alle erprobten Entwicklungsmodelle in China auf Grenzen stoßen: Energiebedarf und Konsumniveau des Westens lassen sich in der Volksrepublik nur mit katastrophalen Folgen für Umwelt und Rohstoffreserven nachahmen. Und würde der chinesische Subkontinent auf dem Weg der Modernisierung ähnlich viele Kriege wie Europa benötigen, wäre der Weltfrieden bald in Gefahr. „Als Nachzügler des 2. Jahrtausend wird die Entwicklung Chinas ab jetzt ein einmaliges Menschheitsexperiment darstellen. Vielleicht wird es das erste Mal sein, daß sich eine so große Gesellschaft auf Dauer friedlich entwickelt“, sagt der kommunistische Ökowissenschaftler Hu Angang.

Die politische Botschaft von 1989 verblaßt unter diesen Umständen nicht. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden bei jedem Schritt der Volksrepublik nur wichtiger werden. Aber die KPCh hat bei ihren Verbrechen von 1989 nicht verharrt, sondern sie – soweit wie möglich – in Wohltaten für die Republik umzuwandeln versucht. Das erkennen die meisten Chinesen heute an und wollen von hier den republikanischen Faden weiterspinnen. Der Westen darf sich dem nicht mit einer Menschenrechtsmoral widersetzen, die in vielen Entwicklungsländern niemanden vor dem Verhungern schützt. Georg Blume