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Volkskunst des Wohlmeinens

Nirgends äußert sich die Meinungsfreude so unverhüllt wie in Leserbriefen – um so mehr, wenn es sich um ein Organ mit moralischem Ruf handelt. Im missionarischen Eifer des Gefechts wird der Andersmeinende schnell zum Sachwalter flauer und finsterer Ansichten erklärt. Eine Analyse am Beispiel von taz-LeserInnenbriefen zum Kosovokrieg  ■ Von Michael Rutschky

Es lohnt, Leserbriefe zu studieren. Sie machen oft klarer als die professionellen Beiträge deutlich, welche Mechanismen die Medienerzählung beherrschen. Leserbriefe stammen von Laien, die mit dem schriftlichen Meinen schlechter vertraut sind, weil sie ihr Arbeitsalltag mit anderem als schriftlichem Meinen beschäftigt. Leserbriefe stellen eine Art Volkskunst dar; die Einzelteile ebenso wie das Ganze sind primitiver angelegt, grobschlächtiger gearbeitet, schlechter poliert. An den Nähten, die oft schief verlaufen, hängen noch die Fäden raus. Wobei im Fall von taz-Leserbriefen – wie ein hübsches neues Büchlein demonstriert- die Jugendlichkeit der Schreiber hinzukommt: Hier wird schriftliches Meinen ja überhaupt erst gelernt.

Als erstes imponiert an den Leserbriefen die überwältigende Kraft des Meinens selber. Professionelle Leitartikler inszenieren sich gern so, als kämen sie nach gründlichem Studium der Lage und intensivem Nachdenken zu ihren Schlußfolgerungen. Im deutlichen Unterschied dazu zeigen Leserbriefschreiber ohne Scheu ihre Meinungsfreude und demonstrieren, zu welcher Waghalsigkeit sie diese Freude verführt. So bemängelt Dr. Gerhard Geisler aus Berlin-Mitte, daß der Bundeskanzler vor dem Parlament erklärt hat, deutsche Soldaten seien unter Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit dabei. „Aber die große Mehrheit des deutschen Volkes“, meint Dr. Gerhard Geisler, „will diesen Krieg nicht! Das wäre leichter zu beweisen, wenn man eine unmanipulierte Umfrage unter der Bevölkerung wagen würde, vor der man sich zur Zeit wohlweislich hütet.“

Meine Meinung erfüllt mich nicht nur mit überwältigender Freude, sie wird auch von der Mehrheit geteilt. Wer das anders sieht, kennt sich einfach mit dem Mehrheitswillen nicht aus, schlimmer noch: will den Mehrheitswillen nicht zur Kenntnis nehmen. Ich lege einfach meine Meinung noch mal obendrauf: Die Meinung hat, vielleicht aufgrund ihrer Lustqualität, die Überzeugungskraft einer Vision; sie kann wie eine Wahrnehmung wirken.

Wenn der Wettlauf nicht meiner Meinung folgt, mindert das die Lust und die visionäre Evidenz keineswegs. Ich muß einfach länger schreiben, und der Leserbrief ähnelt sich dem an, was beim professionellen Leitartikel Analyse heißt (und sein Ungeschick oft bloß besser kaschiert). Ute Finckh aus Berlin meint, keinesfalls dürfe man meinen, im Kososvo seien Nato-Bodentruppen einzusetzen. Wer das nicht meint, hat – Vision! – den Einmarsch schon begonnen, der viele Soldaten das Leben kostet. „Und an diesen Toten“, schreibt Ute Finckh immer weiter, „werden alle die schuld sein, die Nato-Luftangriffe befürwortet haben, weil sie meinten, daß man mit Bomben Frieden schaffen kann, und damit eine militärische Eskalationsstrategie ermöglicht haben. Sie werden sich nicht darauf hinausreden können, daß alle Schuld bei Milosevic liegt – denn von der Friedensbewegung wird seit jeher verlangt, die möglichen Reaktionen eines skrupellosen Machthabers bei ihren (?) Lösungsvorschlägen zu berücksichtigen (und sich gegebenenfalls die Schuld an dessen Aktionen zuschreiben zu lassen).“

Meine Meinung hat den Charakter einer „halluzinatorischen Wunschbefriedigung“ (Freud). Die Vision geht unmittelbar in Magie über, wie Ute Finckhs Leserbrief veranschaulicht: Wer meinte, Bombardements seien politisch nützlich zur Befriedung des Kosovo, hat jetzt auch die Schuld an den Massen toter Bundeswehrsoldaten, die täglich in Deutschland eintreffen. Wer meint, trägt unmittelbar Verantwortung, ist schuldig – wie umfassend hier die Magie des Meinens sich auslegt, erkennt man an der Rolle, die Ute Finckh dem Präsidenten Milosevic zuschreibt: Wer meint, ihn durch Bombardements bezwingen zu können, ist auch für seine skruppellosen Reaktionen verantwortlich. Wer nicht die Meinung von Ute Finckh teilt, trägt Mitschuld am Elend der Flüchtlingsmassen – hier kulminiert die Magie des Meinens in einer Art Reinigungsritual, das Ute Finckh von aller Schuld und Verantwortung befreit, während sie die Andersmeinenden damit belädt.

Richtig, es kommen keine toten Bundeswehrsoldaten massenhaft zurück, aber das wird von der Vision, der Magie, der Halluzination meiner Meinung einfach übersprungen. Sie baut das Schreckbild auf, um mich von Schuld freizusprechen – in der Tat unterhält die Meinung zu Schuld und Verantwortung für alles Elend dieser Welt ein eigentümliches Verhältnis.

Was der Leserbrief bekunden möchte, ist das uneingeschränkte Wohlmeinen seines Schreibers, ein Wohlmeinen, das den Andersmeinenden naturgemäß abgeht. Anders als der Leserbriefschreiber verfolgen sie regelmäßig flaue bis finstere Zwecke. In diesem Sinn ließ uns Kerstin Witt, wenn ich mich richtig erinnere, neulich wissen, daß sie sich ihre Ideale bewahre, im Unterschied zum Außenminister Fischer, der sie verrät zum Zweck seines persönlichen Machterhalts. Da möchte man die Ideale von Kerstin Witt gleich beglückwünschen; zumal Kerstin Witt nicht erkennbar nach dem Amt des Bundesaußenministers strebt (von dessen Freuden sie vermutlich übertriebene Vorstellungen hegt; das Bewahren ihrer Ideale schenkt ihr gewiß viel mehr Befriedigung).

Die Magie des Meinens ist eigentlich eine des Wohlmeinens – und als nächstes muß der Leserbriefschreiber mitteilen, wem sein eigenes Wohlmeinen naturgemäß völlig abgeht. „Wenn Cashmere- Kanzler Schröder mit staatstragender Miene, gedrückt von der schweren Last der Verantwortung für ,unsere jungen Soldaten', zur Nation spricht“, schreibt Stefan Clooth aus Aachen, „kommt bei mir, neben einer gewissen Übelkeit, auch die Vermutung auf, daß ihm und der rot-grünen Regierung der Kosovo-Krieg zur Zeit doch erheblich hilft, von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Wer redet noch von Lafontaine oder Trittin?“ Wer – außer Stefan Clooth aus Aachen? „Die Nation rückt vor dem Fernsehgerät enger zusammen und ist froh, von solch weltmännischen Politikern wie Schröder und Fischer durch schwere Zeiten geleitet zu werden.“

Ich nenne das moralische Eitelkeit. Der Leserbriefschreiber, der Schröder und Fischer und der ganzen Nation flaue bis finstere Absichten unterstellt, präsentiert sich selbst zugleich überglänzt von guter Absicht, Wohlmeinen und Wohlwollen, und das restlos. Das Wohlmeinen ist das funktionale Äquivalent zum Kaschmiranzug: Jederzeit kann ich mich von seinem tadellosen Sitz überzeugen. Daß Schröder im T-Shirt, Fischer stotternd und tränenüberströmt vor die TV-Kamera tritt, daß die Nation von ihnen Inkompetenz und Hysterie verlangen sollte, das verlangt Stefan Clooth aus Aachen gewiß nicht. Die moralische Eitelkeit fordert, daß jedermann ausschließlich mein eigenes Wohlmeinen und Wohlwollen an den Tag lege; schöne Anzüge, Interviewkompetenz, Zutrauen der Bevölkerung in ihre Politiker, das ist alles schon sekundär und lenkt von der Hauptsache ab.

Merkwürdigerweise stört moralische Eitelkeit am wenigsten bei jungen Menschen – den „Idealismus der Jugend“ nannte man das früher; jeder Jüngling stammt direkt aus Friedrich Schillers Dramen, inzwischen kennt man auch jede Menge Jünglinginnen. Dabei ist der Jungmensch – der überquillt von Wohlmeinen und Wohlwollen für Themen jenseits des Horizonts – in seinem Alltagsleben oft herzlich skrupellos (und leidet deshalb korrekt an Schuldgefühlen). Aber wenn es um Probleme hinter dem Horizont geht, Krieg und Frieden, Deutschland und die Nato, Eingreifen im Kosovo oder wo immer, dann kennt der Jungmensch nur noch sein eigenes Wohlmeinen und Wohlwollen, seine Ideale.

Freilich ist er eingeweckt, im Limbo des Familienlebens, des Ausbildungssystems. Er hat kaum Kontakt zu den Dingen; mehr als seine Ideale ist ihm kaum sichtbar. Deshalb verzeiht man ihm die moralische Eitelkeit, das Gespreize mit dem Wohlmeinen. Später freilich, bei älter werdenden Leitartiklern, kann das ein Trennungsgrund sein.

Michael Rutschky, 55, lebt als Essayist in Berlin

Literatur : Macker!, Schlampe!, Heuchlerbande! Die Leserbriefschlachten in der taz. Zusammengestellt und kommentiert von Barbara Häusler. Rowohlt, Reinbek 1999, 192 S., 14,90 Mark

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