Wahlen, die Berlin bewegen, etc.: Richtig. Wichtig.
■ Wer bei der „Sozialwahl 99“ zu spät kommt, den bestraft das Leben – ein bißchen
Seit Wochen beschäftigt unsere Minimetropole eine Frage: „Wen wählst'n du?“ bzw. „Was soll das Ganze überhaupt?“ Weit nach Mitternacht bekomme ich einen Anruf, Mildner spricht auf den Anrufbeantworter: „Ich wollte dir nur sagen, daß ich jetzt weiß, wen ich in die Vertreterversammlung schicke: Die ,Freie Liste Hirrlinger/Laschet‘ 21! Das sind die einzigen, die halbwegs vertrauenerweckend klingen. Tschüs! Ich meld' mich wieder.“
So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen! Zum Glück tagte am darauffolgenden Tag der ORB-Journalistenstammtisch von Jürgen Kuttner und Wellenleiter Electric Galenza, der alle drei Wochen vierzehn Kulturkader aus fünfzehn Berliner Multimedien versammelt. Gleich zu Beginn der Sitzung wagte ich die Frage: „Was ist das eigentlich – eine Sozialauswahl, äh, Sozialwahl?“ Keiner wußte es, nicht einmal der FAZ- und der Spiegel-Redakteur, denen es immerhin als einzigen peinlich war.
Kuttner eilte ins Nebenzimmer, wo sich sein umfangreiches Archiv mit Tonträgern befindet, und wühlte neben seinem Schreibtisch im Papierkorb: Da! Er faltete ein „Merkblatt“ auseinander und las es laut vor: „Die Vertreterversammlung ist das oberste Gremium der Selbstverwaltung Ihrer Angestelltenversicherung!“ Das war starker Tobak! Electric Galenza füllte sofort unsere Gläser nach. „Heißt das, das wir damit das schweinöse Tun unserer Versicherungskonzerne auch noch demokratisch absichern sollen?“ fragte der Jungdramaturg vom BE vorsichtig. Woraufhin der noch jüngere Westberliner Theaterkritiker deklamierte: „Nur die dümmsten Kälber / wählen ihre Schlächter selber! Ich wußte es doch die ganze Zeit.“
„Es scheint mir aber doch alles noch viel komplizierter zu sein“, entgegnete ihm ein rußlandgebürtiger taz-Autor, der das Merkblatt bereits mehrmals gelesen hatte: „Man muß keinen Absender beim Einschicken des Stimmzettels angeben. Deswegen sammeln bei mir im Haus z.B. die Neonazis von nebenan, in der Schönhauser alle Stimmzettel in und vor den Briefkästen ein, füllen sie aus und schicken sie einfach an den Wahlausschuß!“ „Das ist aber doch Wahlbetrug!“ Nun war der Westberliner Theaterkritiker wirklich erbost. „Das Schönste kommt ja noch“, winkte der Russe ab: „Da steht nämlich drauf: ,Verlorene Wahlbriefumschläge können nicht ersetzt werden.‘ Das heißt, unser ganzer Block hat seine Stimme bereits an die Faschisten abgegeben, für nichts und wieder nichts!“ „Was haben die denn alle so gewählt?“ wollte daraufhin der Ex-Redakteur eines staatlichen Enthüllungsjournals wissen. „Meine Frau hat sie auch danach gefragt“, versicherte der mit einer Russin verheiratete russische taz-Autor: „Eine satte Mehrheit wählt wohl Liste 3, die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft DAG.“ Darauf konnten wir uns nun gar keinen Reim machen. „Das ist ja unglaublich!“ stöhnte einer der zufällig anwesenden Ex-taz-Chefredakteure.
Verwirrt löste sich die Versammlung auf. Draußen beschloß der Pauschalist Detlef Kuhlbrodt sofort: „Da mach' ich was drüber!“ Diesmal kam ich ihm jedoch zuvor. Helmut Höge
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