„Ich sah meinen Nachruf im TV“

Die aus Pritina vertriebenen Künstler und Journalisten versuchen, im makedonischen Tetovo wieder Fuß zu fassen. Sie stürzen sich in Arbeit und verdrängen die Erschütterungen der letzten Wochen  ■    Aus Tetovo Erich Rathfelder

So eine Situation kannten die meisten bisher nur aus der Literatur: aus Thomas Manns Exil-Erzählungen etwa oder denen anderer Künstler, die vor den Nazis ins Ausland fliehen mußten. Nun sitzen Intellektuelle aus Pritina, die noch bis vor kurzem in Redaktionen, Verlagen und Instituten arbeiteten, im makedonischen Tetovo. Suchen dort nach Bekannten – und werden schnell fündig. Etwa auf der Terrasse des Restaurants „Arbi“: Da sitzt Skelzen Maliqi, Kopf der kosovarischen Intellektuellen, und berichtet, wie er, der am 24. März noch in Zürich war, um das Leben seiner Frau und Kinder bangen mußte. Ganz in der Nähe ist Beni Kastrati zu sehen, der Schauspieler. Vor wenigen Jahren hat Hollywood einem Film mit ihm den Oscar verliehen. In einer anderen Ecke sitzen die Mitarbeiter der Zeitung koha ditore und diskutieren, wie sie ihr Blatt hier in Tetovo wieder produzieren können. Enge Freunde Ibrahim Rugovas wie die Journalistin und Übersetzerin Vjosa Sadrin sind hier, trinken Cappuccino, fast wie im normalen Leben.

Auch der Besitzer des Restaurants „Hani“, Treffpunkt von Journalisten und der intellektuellen Szene Pritinas, ist jetzt hier anzutreffen. Er trägt noch einen Gipsverband am linken Arm – die Wunden, von Granatsplittern verursacht, verheilen jedoch schon. Noch immer erzählen sie die Geschichte ihrer Flucht, mit welchem Trick und welchem Glück es gelungen war, aus dem Inferno herauszukommen. Informationen und Vermutungen machen die Runde, wer zurückgeblieben ist und wer getötet wurde.

Der Chefredakteur von koha ditore, Baton Haxhiu, galt schon als tot: „Ich saß in einem Keller in Pritina und sah auf allen Kanälen einen Nachruf auf mich.“ Geglückt sei die Flucht, nachdem er sich den Bart abrasierte, die Haare schnitt und sich einreihte in die Schlange der Deportierten. Nun, ausgeruht, sagt er: „Das Leben beginnt jetzt wieder neu.“

Alle überlegen, wie sie erneut ein Leben aufbauen, irgendwie Geld verdienen und die zerstreuten Familienmitglieder zusammenführen können. Alle diese Menschen waren als bekannte Persönlichkeiten in besonderer Weise durch die serbische Soldateska gefährdet. Ihre Häuser, ihre Bücher und Bibliotheken, ihre Computer und Autos sind zerstört oder geraubt. „Das Schlimmste ist jedoch, daß die gesamte Basis des Lebens aus den Fugen geraten ist“, sagt Beni Kastrati. Die soziale Infrastruktur – Freunde, Verwandte – scheint jetzt verloren. „Langsam kommen die Gedanken, wie es weitergehen soll“, sagen auch andere. Doch ihre Zukunft sehen sie nicht im Exil, sondern nur in Pritina. „Wir sind bald wieder da“, vermutet Skelzen Maliqi. Doch genau wissen kann das keiner. So muß das Leben im Exil irgendwie geordnet werden. Die Übersetzerinnen haben schon wieder Jobs bei Journalisten oder internationalen Hilfsorganisationen gefunden. Auch die Mitarbeiter von koha ditore sehen eine Zukunft, wollen sie doch ihre Zeitung hier wieder erscheinen lassen – und sei es nur im Internet. Dafür hoffen sie auf internationale Unterstützung. Doch solche Aktivitäten können die Lage nur verdrängen helfen. Die meisten Deportierten beginnen erst, die Erschütterung der letzten Wochen zu verarbeiten.

Aber auch die Gegenwart hier in Tetovo ist für die vergleichsweise großstädtischen Leute aus Pritina gewöhnungsbedürftig. „Wie primitiv hier alles ist“, flüstert eine Frau, die im künstlerischen Leben Pritinas tonangebend war. Mit ihrer schicken Kleidung, ihrem weltläufigen Habitus und ihren Sprachfähigkeiten fallen die Intellektuellen Pritinas in ihrer neuen Umgebung auf. Ihnen gegenüber erscheinen die Bewohner Tetovos provinziell, beinahe bäuerlich.

„Wir haben es noch gut“, sagt Birol,„wir sind in Privathäusern untergekommen, und wer sein Geld im Ausland hatte, lebt im Hotel.“ Birol arbeitet jetzt als Übersetzer für die New York Times. Kein Vergleich zu den Deportierten, die in die Lager mußten. Auch deren Situation sorgt für Gesprächsstoff. Die Lager seien durch makedonische Polizei bewacht, es seien Stacheldrahtzäune um sie herum gebaut worden. An den Eingängen würden die Menschen kontrolliert. An der Grenzstation Blace an der Straße von Skopje nach Pritina werde ein neues Auffanglager im Niemandsland gebaut, mit einem fünf Meter hohen Stacheldrahtzaun. Dort würden, munkelt man in Tetovo, bald Tausende von Deportierten eintreffen. „Die Serben werfen sie raus, die Makedonier lassen sie nicht ins Land“, klagt Skelzen Maliqi.

Die politische Führungsschicht ist zerstreut, noch im Kosovo wie Veton Suroi oder wie Rugova unter Hausarrest. „Die Menschen vor allem in den Lagern brauchen jetzt unsere Zeitung, als Spachrohr und Orientierungspunkt“, sagt Baton Haxhiu, der Chefredakteur ohne Zeitung. Er fügt hinzu: „Und die Welt braucht uns im Internet.“