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Jurassic taz

Für einen Tag kehrten 42 taz-Fossilien zurück und produzierten eine Ausgabe – das anstrengendste Seniorentreffen, das es je gab. Mittelpunkt aller Debatten: der Kosovo-Krieg  ■ Von Ute Scheub

Hallo Georg, was treibt dich denn hierher? „Alte kucken!“ grient Georg und keucht weiter die Treppen im Rudi-Dutschke-Haus hinauf. Alte – das sind wir. 42 VeteranInnen der taz-Geschichte. 42 Fossilien aus der Jungsteinzeit der taz. 5 Herzinfarkte, 29 Raucherbeine, 37 Fälle schwerer und mittelschwerer linker Desillusionierung. Wir haben heute Seniorentreffen, Marke: Wenn der rote Opa erzählt. Und wollen noch einmal gemeinsam — Ach! Schön! So wie damals! – eine taz-Ausgabe produzieren.

Belgrad (AFP) – Das Erdbeben vom Samstag, das an der Adriaküste Jugoslawiens starke Schäden anrichtete und über 100 Opfer forderte, hat auch in Albanien mehrere Todesopfer zur Folge gehabt. taz- Aufmacher vom 17. 4. 79

Was macht man bloß mit diesem unpassenden Krieg in einer Jubiläumsausgabe? Ignorieren? Geht nicht. Dagegen sein? Geht auch nicht. Dafür sein? Geht ebenfalls nicht. Dürfen wir lachen, unseren Spaß haben? Oder müssen wir ernst auf unseren Plätzen verharren und immer nur an Auschwitz denken? An die Lehren daraus? An die von Joschka Fischer und Rudolf Scharping, die unbedingt beweisen wollen, daß sie nicht zuschauen wie ihre Naziväter, hinter deren hysterischem Auftreten die Angst spürbar wird, sich unrettbar verschätzt zu haben? Oder die von Gregor Gysi und anderen Friedensfreunden, die treudoof bis zur Idiotie auf ein Einsehen von Papa Slobodan hoffen?

Zwanzig Jahre linker Geschichte treffen sich am Donnerstag nachmittag zur ersten Redaktionskonferenz. Es ist auch eine Feuerprobe: Werden sich die BellizistInnen und die PazifistInnen beballern, so wie sich in der Geschichte der taz ständig zwei Fraktionen bekriegt haben, oder ist ein gewisser zivilisatorischer Fortschritt eingezogen?

Der hintere Teil der Zeitung, die Ressorts Frauen, Medien, Kultur, Sport, Wahrheit, müssen vorproduziert und bis Mitternacht fertiggestellt werden. Michael Rediske, der scheidende Chefredakteur, mimt den technischen Koordinator: „Ich muß nur darauf achten, daß die Anzeigen reinkommen.“ „Die von der Nato?“ fragt „Wahrheits“-Gründer Mathias Bröckers spitz. Annette Eckert, Kriegsgegnerin und Kulturredakteurin der ersten Stunde, sitzt wie an einer Schießscharte, hinter einem enormen Stapel von Manuskripten, Heften, Büchern. „Es gibt 35.000 schwangere Frauen im Kosovo“, holt sie aus. Sie habe da einen Artikel von einer Frau, zugebenermaßen sehr lang, über Kriegskinder und Vergewaltigungskinder und ihr lebenslanges Trauma. „Und hier“, sie zeigt Fotos von brennenden Puppen auf einem Fluß, „es gibt wenig Künstlerinnen, die sich in solcher Weise mit Krieg und Gewalt auseinandersetzen. Das hätte ich auch gern im Blatt.“

Peter Murakami neben ihr schaut, als sollte er selbst verbrannt werden. Peter war Bankräuber, bevor er zur taz kam. Neben ihm sitzt noch ein früherer Bankräuber: Wolfgang Grundmann, in den siebziger Jahren bei der RAF, danach geläuterter taz-Justizredakteur. Ihnen gegenüber noch einer, ein staatlicher Bankräuber: Dirk Wildt, früher taz-Fotograf und taz- Lokalredakteur, inzwischen Sprecher der Berliner Finanzbehörde. Er hat Manuskripte zum Thema „Seitenwechsel“ mitgebracht: Drei ehemalige tazler plaudern über ihren jetzigen Job als Pressesprecher. „Seitenwechsel!“ ruft Annette Eckert. „Herr Fischer hat extrem die Seiten gewechselt! Und ich habe diese Regierung gewählt, verdammt!“

Schröders Roadshow. Anarchie in Germoney. – Ein Novum bei uns! taz-Anzeige vom 17. 4. 79

Klaus Nothnagel, ehemaliger Kulturredakteur, sträubt seine Haare zu einem veritablen schwarzen Mob: Auf den ganzen hinteren Zeitungsseiten finde nur Krieg statt und Elend und nichts, gar nichts von der Liebe und den anderen angenehmen Dingen des Lebens. „Wollen wir das?“ ruft er empört. „Ich möchte mir nicht vom Krieg vorschreiben lassen, wo ich mich noch zu amüsieren habe.“ Wolfgang Grundmann, langhaarig und knochig wie ehedem, holt zu einer Brandrede aus, der Qualm stammt von seiner Selbstgedrehten. Er sei strikt gegen den Nato- Einsatz, in seinem Schatten würden eine türkische Großoffensive gegen Kurdistan und viele andere Kriege geführt, von denen niemand mehr spreche. „Ich habe eine militante Geschichte und weiß, wohin Militanz führt. Auch Regierungsmilitanz!“ Wenn Wolfgang einen Kommentar in dieser Richtung schreibe, dann formuliere er den Gegenkommentar, verspricht Ex-Lokalredakteur Benedict Maria Mülder und droht mit „Konsequenzen aus der deutschen Geschichte“. Die anderen sind einverstanden: Kontroverse Debatten sind gute alte taz-Tradition. In weiser Voraussicht hat jemand gleich drei Seiten für die Kommentare der Exxen reserviert. „Auslaberfläche“ nennt Ex-Hamburg- Redakteur Tom Schimmeck das.

Die Wahrheiten sind nicht pur zu haben. Es gibt sie nur im Gemisch mit Meinungen und Interessen, Hoffnungen und Wünschen, Liebe und Haß... Nur indem wir die verschiedenen Auffassungen konfrontieren, sie aufeinander hetzen, sie dazu zwingen, sich aufeinander zu beziehen, werden wir nach und nach dahinter kommen, wie die Dinge jeweils wirklich liegen. taz- Editorial vom 17. 4. 79

Freitag mittag. Rennende, hechelnde Exxen auf allen Fluren. Die Ex-RAF schreibt emsig an ihrem Kommentar; die Berliner Zeitung steht krampfig vor der Linse eines Fotografen; der Spiegel, das Info-Radio und die Woche haben sich der Produktion der ersten vier Seiten bemächtigt; der „Länderspiegel“ versucht vergeblich, in den taz-Computer zu kommen. „Kennst du dich aus mit diesem System?“ ist die meistgestellte Frage, „ein Scheißsystem!“ die häufigste Antwort. Nur mit ihren Computern hat sich die ehemals linksradikale taz immer noch nicht ausgesöhnt. Axel Kintzinger, ehemals Inlandsredakteur, hat Balkankorrespondent Erich Rathfelder am Telefon. Was Erich aus Makedonien berichten will, hört man nicht. Nur Axels strenge Anforderung: „Ich brauche Stimmen von Flüchtlingen, die reflexiv sind.“ Und dann, Axel nickend: „Sehr gut, ich find' das todspannend.“ Das passende Wort in diesen Zeiten.

Uns ist heute gar nicht zum Feiern zumute. taz-Editorial vom 17. 4. 79

Dietrich Willier, der ehemalige Stuttgarter Korrespondent, hat noch nie zur Fraktion der Wichtigtuer gehört. Auch in den jetzigen Debatten nicht. Obwohl er den Kosovo kennt wie kaum ein zweiter Journalist. In den letzten Jahren hat er sich fast ständig dort aufgehalten. „Ich hab' hier so ein Papier, das vielleicht interessant ist“, sagt er leise aus dem Off. Aus der Tasche zieht er einen Appell zur Freilassung des kosovo-albanischen Präsidenten Rugova aus serbischer Geiselhaft, formuliert von seinem in Stuttgart weilenden Vertreter Hafiz Gagica. Er habe zufällig danebengestanden, erzählt „Didi“, als Rugova am letzten Montag, offenbar nur für wenige Minuten unbewacht, mit seinem Vize telefonieren konnte.

Havemann wird ausgehungert. Der Hausarrest des SED-Kritikers ist am Donnerstag drastisch verschärft worden. taz-Titelseite vom 17. 4. 79

Mittägliche Stehkonferenz zur Gestaltung der Titelseite: Der Appell zur Freilassung Rugovas wird der Aufmacher. Tom Schimmeck will unbedingt ein „taz exklusiv“ danebensetzen. „Wir als taz sollten doch...“ Gerade mal ein paar Stündchen in diesen Räumen, und schon wieder „wir“? „Ich geb's ja zu“, sagt Tom. „Ich hab' mich nie wieder mit einem Laden so identifiziert wie mit der taz.“

„Du siehst aus wie ein Konkursverwalter“, sagt Ex-US-Korrespondentin Andrea Böhm zu dem mächtigen Schlips, der sich angeberisch rot um den Hals von Dirk Wildt gewunden hat. Der Finanzpressesprecher läßt sich nicht beirren, er sammelt gerade Unterschriften unter sein selbstentworfenes Flugblatt, das er den Nachrichtenagenturen faxen will. „Ex- MitarbeiterInnen besetzen die taz“, heißt es darin. „Wir verlassen die taz erst nach Ende der Produktion – auch wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden.“ Eine halbe Stunde später ist von Dirk nur noch die Hälfte vorhanden. Die Krawatte hängt irgendwo als Kriegstrophäe, erobert von der Pazifistin Annette Eckert: „Ich wollte das nicht unterschreiben, und da meinte er, er würde das für mich tun. Das ging denn doch zuweit.“

Wir werfen die Flinte noch nicht ins Korn. Bisher spielen Frauen in den Medien eine sehr untergeordnete Rolle. Das wird anders! Kollektiv der taz-Frauen am 17. 4. 79

Kurz vor Redaktionsschluß: Elke Schmitter, ehemalige Obertazzin, und Gitti Hentschel, ehemalige Frauenredakteurin, suchen verzweifelt alle Räume und das gesamte Treppenhaus ab nach weiblichen Kommentarschreibern. „Wenigstens eine Glosse, bitte!“ Auf der so bereitwillig ausgerollten „Auslaberfläche“ haben sich, wie üblich, die Kerle festgesetzt: sieben männliche Meinungen und eine weibliche. Drei Herren bomben für die Menschenrechte, nur der Herr von der RAF hat damit „ein Problem“, und natürlich – natürlich!!!??? – die Frau. Krieg macht das Geschlechterverhältnis wieder so richtig schön archaisch: Dumme Stricklieseln summen weiter ihre Friedenslieder hinterm Ofen, während knackige Kerle ausziehen und das Böse besiegen. Krieg macht tote Archetypen lebendig. Krieg macht müde Männer hysterisch.

Die taz wird zu Anfang miserabel sein, und manchmal wird sie vielleicht überhaupt nicht sein. taz- Editorial vom 17. 4. 79

Samstag abend. Geburtstagsfest im „Tacheles“. Allgemeine Umfrage: Wie fandet ihr denn unsere Ausgabe? Alle nicken ziemlich zufrieden. „Na, schon ein bißchen besser als unsere erste vor zwanzig Jahren.“ Auch Claudia Croon, frühere Kulturfrau, jetzt Komponistin, spricht nicht mehr von der „Vorhölle“, als die sie die Redaktionskonferenz vom Donnerstag empfunden hatte. Tom Schimmeck sieht es noch eindeutiger: „Früher war die taz die Hölle. Jetzt geht's hier ziemlich zivil zu.“ Die Feuerprobe: bestanden.

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