■ Dokumentation: „Ein breites Spektrum von Risiken“
Die Nato hat während der vierzig Jahre des Kalten Krieges die Freiheit ihrer Mitgliedstaaten erfolgreich gesichert und einen Krieg in Europa verhindert. [...] Die Gefahren des Kalten Krieges sind vielversprechenderen Perspektiven, aber auch Herausforderungen, neuen Chancen und Risiken gewichen. Die Teilnehmer des Nato-Gipfels in Washington haben am Samstag ein neues strategisches Konzept verabschiedet. Hier Auszüge aus dem 30 Seiten umfassenden Dokument im Wortlaut der in Washington offiziell vorgelegten deutschen Übersetzung.
„Komplexe neue Risiken für den Frieden und die Stabilität im euro-atlantischen Raum“
„Ein neues, stärker integriertes Europa ist im Entstehen begriffen, und es bildet sich eine euro-atlantische Sicherheitsstruktur heraus, in der die Nato eine zentrale Rolle spielt. [...] In den letzten zehn Jahren sind [...] komplexe neue Risiken für den Frieden und die Stabilität im euro-atlantischen Raum aufgetreten, einschließlich Unterdrückung, ethnischer Konflikte, wirtschaftlicher Not, des Zusammenbruchs politischer Ordnungen sowie der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. [...]
Der wesentliche und fortdauernde Zweck der Nato, der im Vertrag von Washington niedergelegt ist, besteht darin, die Freiheit und Sicherheit aller ihrer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln zu gewährleisten. [...] Um sein wesentliches Ziel zu erreichen, nimmt das Bündnis als eine Allianz von Völkern, die dem Washingtoner Vertrag und der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet ist, die folgenden grundlegenden Sicherheitsaufgaben wahr:
– Sicherheit: Es bietet eines der unverzichtbaren Fundamente für ein stabiles sicherheitspolitisches Umfeld im euro-atlantischen Raum, gegründet auf dem Wachsen demokratischer Einrichtungen und auf dem Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, in dem kein Staat in der Lage ist, einen anderen Staat durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt einzuschüchtern oder einem Zwang auszusetzen.
– Abschreckung und Verteidigung: Es schreckt von jeder Aggressionsdrohung und wehrt jeden Angriff gegen einen Nato-Mitgliedstaat ab, wie es in den Artikeln 5 und 6 des Washingtoner Vertrags vorgesehen ist.
Zur Erhöhung der Sicherheit und Stabilität des euro-atlantischen Raums:
– Krisenbewältigung: Es steht bereit, von Fall zu Fall und im Konsens, im Einklang mit Artikel 7 des Washingtoner Vertrags zu wirksamer Konfliktverhütung beizutragen und aktive Krisenbewältigung zu betreiben, auch durch Krisenreaktionseinsätze.
– Partnerschaft: Es fördert eine breitangelegte Partnerschaft, Zusammenarbeit und Dialogführung mit anderen Staaten im euro-atlantischen Raum mit dem Ziel, Transparenz, gegenseitiges Vertrauen und die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln innerhalb des Bündnisses zu erhöhen.
Das Bündnis wird bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben auch weiterhin die legitimen Sicherheitsinteressen anderer Staaten achten und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben. [...] Das Bündnis betrachtet sich nicht als Gegner irgendeines anderen Staates. [...]
Ungeachtet positiver Entwicklungen im strategischen Umfeld sowie der Tatsache, daß ein großangelegter Angriff gegen das Bündnis höchst unwahrscheinlich ist, besteht die Möglichkeit, daß sich eine solche Bedrohung längerfristig entwickelt. Die Sicherheit des Bündnisses bleibt einem breiten Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken unterworfen, die aus vielen Richtungen kommen und oft schwer vorherzusagen sind. Zu diesen Risiken gehören Ungewißheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln könnten. [...]“
Die Sicherheit des Bündnisses muß jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Terrorakte, Sabotage und organisiertem Verbrechen sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen. [...]
Die Nato (wird) in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein, Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, darunter auch durch die Möglichkeit von nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen. [...] Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Bündnissolidarität und -zusammenhalt bleibt die Beteiligung an einer solchen Operation und einem solchen Einsatz den Beschlüssen der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungen vorbehalten. [...] Ein wichtiges Ziel des Bündnisses und seiner Streitkräfte ist es, Risiken dadurch in Schach zu halten, daß potentiellen Krisen in einem frühen Stadium begegnet wird. [...]
„Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen“
Der grundlegende Zweck der nuklearen Streitkräfte der Bündnispartner ist politischer Art: Wahrung des Friedens und Verhinderung von Zwang und jeder Art von Krieg.
Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, indem sie dafür sorgen, daß ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden. Sie machen deutlich, daß ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige Option ist. [...]
In Europa stationierte und der Nato unterstellte Nuklearstreitkräfte stellen ein wesentliches politisches und militärisches Bindeglied zwischen den europäischen und den nordamerikanischen Mitgliedstaaten des Bündnisses dar. Das Bündnis wird daher angemessene nukleare Streitkräfte in Europa beibehalten. Diese Streitkräfte müssen die erforderlichen Merkmale und angemessene Flexibilität und Überlebensfähigkeit besitzen, damit sie als glaubwürdiges und effektives Element der Strategie der Bündnispartner zur Kriegsverhinderung verstanden werden. Sie werden auf dem Mindestniveau gehalten werden, das zur Wahrung von Frieden und Stabilität ausreicht. [...]
Seit 1991 haben die Verbündeten daher eine Reihe von Schritten unternommen, die das Sicherheitsumfeld nach dem kalten Krieg widerspiegeln. Dazu gehören eine dramatische Verringerung der substrategischen Streitkräfte der Nato nach Typ und Zahl einschließlich der Beseitigung aller nuklearen Artillerie und bodengestützten nuklearen Kurzstreckenflugkörper. [...] Die Nuklearstreitkräfte der Nato zielen nicht länger auf irgendein Land. Dennoch wird die Nato angemessene, in Europa stationierte substrategische Nuklearstreitkräfte auf dem niedrigsten, mit der jeweils herrschenden Sicherheitslage zu vereinbarenden Niveau beibehalten. [...]
AP
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