piwik no script img

Soviel Liebe

Wenn du dir die Verhältnisse anpaßt: Hamburgs Blumfeld und ihre Hymnen an die Linke in der ausverkauften Markthalle  ■ Von Michael Hess

1999 – Blumfeld fünf Jahre nach Blumfeld. In einer seit Wochen ausverkauften Markthalle spielt Deutschlands einflußreichste Band der 90er Jahre ihre letzte Zugabe. Der Versuch einer Coverversion: „Let's Stay Together“. Ein Titel, den Tina Turner schon mal gesungen hat. Doch Jochen Distelmeyer bringt ihn in einer Version, die eher an George Michael erinnert. Beinahe hätte er den Song sogar noch angesagt. So aber flüstert er nur „Hört selbst!“ 1999 – willkommen im George-Michael-Land?

Wohl kaum ein Konzert der letzten Jahre wurde im Vorfeld derart zum Spekulationsobjekt erklärt wie der erste Hamburger Blumfeld-Auftritt mit neuer Platte und Besetzung. Paßt sich die Band tatsächlich den Verhältnissen an oder ist es eher umgekehrt? Müssen wir jetzt wirklich die Münchner Freiheit gut finden? Ist Pop immer gleich Pop? Amüsiert erzählte Distelmeyer zwischen zwei Songs, wie er kürzlich mal verwechselt wurde: „Hey, bist du nicht der Sänger von Liquido?“ – „Na klar doch.“

So kann's kommen. Natürlich hatten Blumfeld am Montag keine Probleme, die rund 1000 Anwesenden von der Absurdität einer solchen Verwechslung zu überzeugen. Blumfeld bleiben Blumfeld und vor allem die Band von Jochen Distelmeyer. Der stand anfangs im Halbdunkel und richtete nicht ohne Stolz das eigene Objektiv auf den Pulk der ihn erwartenden Photographen. Einige Bands tun das bisweilen, um den ungläubigen Daheimgebliebenen den auswärtigen Erfolg bildhaft zu machen. Bei Blumfeld ist das anders. Im ersten Heimspiel seit Jahren galt es einzig sich selbst zu beweisen.

Das Motto des Abends war schnell gefunden. „Love Is In The Air“, und bereits die Vorgruppe TGV lieferte mit ihrer Zugabe die vorauseilende Übersetzung des Kommenden: „I've got so much love to give“. Nur die Liebe zählt, und das gleich „Tausend Tränen tief“. Was folgte war eine routinierte Werkschau über „drei Langspielplatten in zehn Jahren“, so Distelmeyer knapp, die in erster Linie eins klar machte: Old Nobody, das aktuelle Werk, ist keineswegs der große Unbekannte. Die von vielen apostrophierte Zäsur in der Entwicklung der Band fand höchstens in ihrer personellen Umbesetzung statt. Der Rest wuchs aus sich selbst heraus. Als Blumfeld vor acht Jahren partout nicht von Sex reden wollten, verbarg sich hier bereits das hemmungslose Versprechen auf Liebeslieder – „Viel zu früh und immer wieder“. Live fügten sich diese jetzt ebenso selbstverständlich in das Programm ein wie Coverversionen von Tina Turner.

Und sonst? Distelmeyer schleuderte sein Sputum wie eh und je punktgenau zwischen die Planken und blinzelte wie ein Schneemann in der Sonne. „Die Linken“ kürte er zur Untoten des Jahres, rappte wie kein zweiter und ließ sogar den Roadie rocken. Status quo vadis? Neulich stand an dieser Stelle, über Blumfeld gäbe es nichts mehr zu sagen. Spätestens nach zwei Stunden Konzert war jedem klar, daß das so nicht stimmt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen