Vom Erdling zum Netizen / Folge drei: Die Skrupel einer Schwindlerin
■ Wie der Autor vom gewöhnlichen Erdenbürger zum Netizen wurde / Eine eher emotionale Einführung in die Welt der neuen Netze in schätzungsweise zehn Folgen / Dritte Lieferung: Entdecke den Hyde in Dir und andere kleine und große Boshaftigkeiten
Zur Erinnerung: Der Autor dieser Serie beschloß, dem Single-Dasein via Internet ein Ende zu machen. Er wollte sein Geld lieber für Einladungen in dekadent teure Restaurants, gemeinsame Frankreich-Urlaube und eines Tages auch für Elemente einer neuen Küche ausgeben statt für hohe Telefonrechnungen. Ein letztes Mal legte er deshalb seine Scheckkarte auf den Ladentisch eines Fachhandels für Elektronikbedarf, kaufte ein neues Modem, stieß in die 33.600-Baud-Sphäre vor, um zu finden, was er suchte: sich selbst!
Tania war inzwischen zu meinem zweiten Ich geworden. Meine Chat-Sucht trieb mich in diesen Tagen immer häufiger in die Foren des Microsoft-Servers. In diesen zahllosen virtuellen Räumen des globalen Plapperns tummeln sich Süchtige aus aller Welt. Die Grenzen von Tag und Nacht sind genauso aufgehoben wie die Landesgrenzen.
Mit Gertrud aus Honduras habe ich mich immer nach dem Mittagessen verabredet. Das heißt: Sie hatte gerade Mittag gegessen. Ich prostete schon zur Nacht. Für Gertrud aus Honduras war ich natürlich nicht Tania. Aber vielleicht war Gertrud aus Honduras auch nur für mich eine Tochter deutschstämmiger Einwanderer, die ihr Deutsch mit einem charmanten spanischen Akzent schrieb.
Wenn ich mich in Tania verwandelte, ließ ich mir die Haare lang wachsen, und meine Augen wurden grünblau. Tania war 25, studierte irgendwas und hatte ein Hobby, das exotisch genug für einen Auftritt in Jürgen von der Lippes „Geld oder Liebe“-Show war. Tania hatte wahlweise große und manchmal kleine Brüste und kokettierte damit. Denn nirgendwo kommt es so auf das Äußere an als da, wo selbst das Äußere nur Illusion ist. Erst bei Max_15 hatte Tania Skrupel. Die erinnerten sie an das erste Mal. Beim ersten Mal, als ich mich unter ihrem Namen einloggte, glaubte ich, der Schwindel würde schon nach dem ersten Satz auffliegen. Ich dachte, es müßte irgendeine geheime Botschaft ge-ben, an der ich zu erkennen wäre. Doch es gab diese Botschaft nicht. Niemand hat je etwas gemerkt.
Mit Stefan_Ulm habe ich noch geflüstert. Flüstern ist, wenn die anderen im Chat-Forum den Dialog nicht lesen können. Irgendein Administrator wird ihn bestimmt lesen können, aber darüber machte ich mir keine ernsthaften Gedanken. Auch an mögliche Zeugen der Gespräche in den Hinterzimmern und Privaträumen, in denen ich Nanjuk, Asterix und unzählige andere Opfer verführte, dachte ich nicht. Zunächst ist es witzig, sie zum äußersten zu bringen. Doch kaum ein Reiz verblaßt so schnell wie der Reiz des virtuellen Sex. Man kann beim Chatten eben schlecht mit der Nase tippen. Ha ha. Auf Dauer ist das Hinhalten viel ergiebiger. Tania lockte ihre Opfer erst und wies sie dann ab. Sie brachte dieses Spiel zur Perfektion. Oft dauerte es Stunden, manchmal sogar Wochen. Ihr fielen immer neue Bedingungen ein, um Nanjuk, Asterix und den anderen das – natürlich gefälschte – Foto möglichst lange vorzuenthalten. Und als sie danach genug von den Komplimenten hatte, bestach sie den Chat-Master, und Nanjuk, Asterix oder ein anderer waren bald für immer verschwunden. Zunächst bedauerte sie ihre Opfer für die häufigen Programmabstürze. Doch tatsächlich lachte sie sich kaputt. Es machte Tania Spaß, die Sau rauszulassen. Natürlich war sie eleganter als die vielen Spinner, die einen Chat mit plumpen Beschimpfungen und immer wiederholten Sätzen lahmlegen wollen. Tania führte ihre Opfer an der langen Nase herum. Doch dann kam Max_15 und sollte alles verändern.
In ihrer inzwischen ausgefeilten Fragetechnik fand Tania heraus, daß Max_15 aus Bochum stammte, auf „Star Trek“ stand, rund um die Uhr am Rechner saß und erst 13 war. Er brannte darauf, erotische Erfahrungen zu machen. Doch Tania hatte Skrupel. Für einige Wochen wurde sie zu seiner älteren Schwester und versuchte, ihm das echte Leben schmackhaft zu machen. Sie gab ihm Hinweise, erzählte aus der eigenen Jugend, schrieb ihm im Lauf der Wochen ein ganzes Buch von Empfehlungen. Doch es nützte nichts. Wie könnte es auch? Denn möglicherweise war ich selbst inzwischen Max_15. Doch wer war dann noch Tania? Manche Fragen sind nie mit letzter Sicherheit zu klären. Ich beschloß, beide für immer im Gedächtnis zu begraben. So endete die erste Phase meiner Chat-Sucht, und es begann wenig später eine zweite.
Christoph Köster
Lesen Sie (oder darf ich schon Du sagen?) in der nächsten Folge dieser bald einen überaus dramatischen Bremen-Bezug gewinnenden Serie, warum das Böse in mir noch immer nicht besiegt war und wie mir langsam aufging, daß die Kommunikation via Mail, Chat und Net auch echte Bande knüpfen kann.
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